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1968 - 20xx
20xx

Geschichte

Paulinerkirche

mit freundlicher Genehmigung Graphikantiquariat Martin Koenitz

Gottesdienst und Kirchenmusik in der Universitätskirche zu St. Pauli-Leipzig seit der Reformation (1543–1918).

Von Prof. Hans Hofmann,

Oberlehrer an der Oberrealschule-Leipzig und Kantor zu St. Pauli.

aus: "Beiträge zur Sächsischen Kirchengeschichte", 32. Heft (Jahresheft für 1918), Leipzig, Johann Ambrosius Barth, S. 119-151

I. Die Gottesdienste in der Universitätskirche.

l. Was seit 1543-1710 für gottesdienstliche Feiern in der Universitätskirche abgehalten wurden.

Der Rat der Stadt Leipzig versachte nach Einführung der Reformation in Leipzig (1539) mit allen Mitteln, nicht nur das gesamte Kirchen- und Schulwesen der Stadt) das bis dahin unter dem Thomaskloster und seinem Propst gestanden hatte, unter seine Aufsicht und Oberhoheit zu bekommen, sondern er suchte auch die Leipziger Klöster mit ihrem reichen Grundbesitz an Äckern, Wiesen, Wäldern und Dörfern an sich zu bringen. Auf dem Landtage zu Leipzig am 28. Dezember 1541 wurde denn auch beschlossen, dass "die Pfarren und Schulen in allen Wegen von den geistlichen Klostergestiften und Gütern unterhalten werden sollten". In Leipzig war nun "von Alters her solche Unterhaltung und Bestellung aus und von des Klosters zu St. Thomas Gütern geschehen". Der Rat war gern erbötig, diese Verpflichtung des Thomasklosters künftig auf sich zu nehmen, wenn ihm dafür der gesamte Klosterbesitz in der Stadt: das Thomas-, Barfüsser-, Nonnen- und Dominikanerkloster mit allen Pfarren, Gütern und Rechten käuflich überlassen würde. Das wurde ihm auch vom Herzog Moritz zugesichert.

Ehe aber der Klosterkauf noch abgeschlossen war, wurde dem Rat ein grosser Strich durch die Rechnung gemacht. Dem frühern Thomasschulrektor Kaspar Börner, der im Wintersemester 1541/1542 zum zweiten Male Rektor der Universität war, gelang es nämlich, den jungen Herzog Moritz für einen grosszügigen Plan zu gewinnen: das Dominikanerkloster der Universität zu schenken.

Wenn heute das unansehnliche Seitengebäude im Hofe der Universität den Namen Bornerianum trägt, so ist das eigentlich zu wenig Ehre für diesen bedeutsamen Förderer der Universität. Auch sein an sich schönes Grabmal, das als Hochrelief im schmucken Renaissancestil an der Nordwand des Altarplatzes hinter dem neuen Flügelaltar der Universitätskirche prangt, steht für solche dankbare Anerkennung, die Kaspar Börner von der Universität verdient, an zu verborgener Stelle. Dr. Börner gewann durch den herzoglichen Rat Dr. Komerstadt den Herzog so für seinen Plan, das fortan das Dominikanerkloster bei den Kaufverhandlungen des Rates zum grössten Verdruss der Leipziger Ratsherren nicht mehr mit in Frage kam. Am 6. August 1543 wurde endlich die Kaufurkunde vom Herzog Moritz unterzeichnet, und damit gingen das Thomaskloster, das Barfüsser- und das Nonnenkloster in einem Werte von 83342 Gulden in den Besitz der Stadt Leipzig über, zugleich aber auch die Verpflichtung und das Recht, "die Pfarrer, Prediger, Capellan, Schulmeister, Cantores und andere Kirchen- und Schuldiener zu Leipzig zu ordnen, zu setzen und zu entsetzen" und "zu ihrer Besoldung die Einkommen, Rent, Zinsen und Nutzung aller Lehen, Anniversarien in allen Kirchen und Klöstern bei ihnen, "soviel der Lehen aufs Studium (für die Universität) nicht gestiftet", zu verwenden.

Schon am 22. April 1543 aber war laut Herzog Moritzens und seines Bruders Herzogs Augusts Donation das Dominikanerkloster der Universität gestiftet, wie die Urkunde in den Universitäts-Rektoratsakten Rep. II/III Nr. 3 pag. 80 b besagt:

... "ferner haben wir Gott zu Lobe vielgemeldeter Universität das Gebäude des Pauler Closters zu Leipzigk mit allen datzu gehörenden Häusern, Gebäuden, Geräumen, auch der Kirchen und dem Kirchhofe in allermassen etwan die Pauler Mönche dasselbe innen gehabt, genossen und gebrauchet dergestalt zugestellet, eingeräumet und verordnet, dass die Universität solches mit gleicher Freiheit und Gerechtigkeit sollen inne haben, geniessen und gebrauchen."


Wenige Wochen später wies der Herzog seinen Leipziger Amtmann Christoph von Carlowitz an:

Dresden, Sonnabend nach Viti, den 27. Juni Anno 1543:

... "begehren wir, du wollest bemeldter Universität solch Klostergebäude mit allen Rechten, so weit die Trauffe von allen Dächern auswärts fället, wie es die Pauler Mönche innegehabt, einräumen."


Schon 1542, als dem Rate die Leipziger Klöster erst in Aussicht gestellt waren, hatte dieser sich nun als Besitzer gefühlt und in diesem – allerdings wohl nicht ganz unberechtigten – Glauben in den Leipziger ehemals katholischen Kirchen alle überflüssigen Nebenaltäre, Beicht- und Chorgestühl und alles, was unevangelisch war, herausgebrochen, auch sogar in der Paulinerkirche, die ihm allerdings seit 1643 wieder aus den Zähnen gerückt wurde.

Gleichwohl gab der Rat auch jetzt noch nach der ausdrücklichen Schenkung des Dominikanerklosters an die Universität seine Absichten auf diesen wertvollen Grundbesitz im Herzen der Stadt nicht auf.

Der Leipziger Bürgermeister Dr. Fachs, der zugleich juristischer Ordinarius und Mitglied des herzoglichen Geheimen Rates war, versuchte nämlich die Universität wieder zum Verkaufe des Klosters an den Rat der Stadt Leipzig zu dem Preise von 8000, schliesslich 10000 Gulden zu bewegen. Dr. Börner widerstrebte dem mit allen Kräften. Das wurde ihm umso schwerer gemacht, da man die einzelnen Professoren durch in Aussicht gestellte Gehaltszulagen für den Plan zu gewinnen suchte. Aber Börner, der den viel grösseren, von Jahr zu Jahr steigenden Wert des Grundbesitzes im Herzen der Stadt erkannte und für die Universität festhalten wollte, liess sich trotz Spottes und heftiger Angriffe seiner Kollegen nicht irre machen. Er erbat sogar eine Audienz beim Herzog Moritz, und der sicherte ihm zu:

"Ich will mich dermassen gegen die Universität verhalten, dass sie wohl spüren soll, dass sie mir lieb sei."


So blieb die Universität im Besitz der Grandstücke und Ländereien des Dominikanerklosters zu St. Pauli, dessen Einkünfte zum Unterhalt der Hochschule verwendet, dessen Gebäude zu Hörsälen und Wohnungen für Professoren und Studenten benutzt wurden.

Die vom Rat, der sich 1542 schon fast als Besitzer angesehen hatte, ihres Gestühls, der Altäre und mancher Kostbarkeiten beraubte Paulinerkirche wurde nun von Rektor Börner 1543 wiederhergestellt. Der Lettner wurde niedergelegt, so dass Chor und Gemeindehaus jetzt einen einheitlichen Raum bildeten. Die Grabmäler wurden erneuert, drei Seitenkapellen an der nördlichen Wand der Kirche abgebrochen. So erhielt die ehemalige Klosterkirche einen schlichten, aber einheitlichen Charakter.

Über diesen Umbau heisst es in dem von Börner verfassen Actis Academicis An. 1543 Lit L Signatis fol. 46, 47:

In demselben Winter (1543) haben wir auf dem Unterbau des abgetragenen höchsten Altars (Hochaltars) einen hölzernen Altar errichtet und darauf ein Bild einfachster Art gestellt. Und nach diesem ersten Vierteljahr haben wir eine öffentliche gottesdienstliche Zusammenkunft (publicum conventum sacrum), in den Versammlungen (Collegiis) vorher sittegemäss angesagt und durch Bekanntmachung (am schwarzen Brett) angeordnet, unter dem Läuten der Glocke (jedenfalls aere statt are zu lesen!) auf dem kleinen Turm mit Gesang und Orgelklang unter zahlreicher Beteiligung der studierenden Jugend gefeiert. Und die Abhaltung dieser Feier hierorts haben wir unsern Nachfolgern angeordnet. Eine gelehrte Ansprache hielt Lic. Antonius Musa über jenes Psalmenwort (2, 12):

"Küsset den Sohn" und diese hat er alsdann (gedruckt) herausgegeben."


Luther hat dann selbst die erneuerte Paulinerkirche am 12. August 1545 bei seinem letzten Aufenthalt in Leipzig "durch eine gewaltige Predigt, die er unter Zulauf der ganzen Stadt" über das alte Evangelium des S. Sonntags p. Trin. Luk. 19, 41—46:

"Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie" hielt, eingeweiht; gleichwohl wurden in Zukunft doch keine Sonntagsgottesdienste mehr darin gehalten.

Leipzig hatte damals 15000 Einwohner, für die die Gottesdienste in den beiden Hauptkirchen Thomas und Nicolai genügten; auch in der Barfüsser- (jetzt Matthäi-) kirche wurde seit der Einführung der Reformation kein Gottesdienst mehr gehalten. Ausserdem ermangelte es, wie es in den Akten heisst, "an den nötigen Geldmitteln, um die sonntäglichen Predigten fortzusetzen".

Die Paulinerkirche wurde vielmehr nur zu akademischen Feiern benutzt, und zwar:

1. Zu den vier solennen Festakten zu Weihnachten, Ostern, Pfingsten und am Reformationsfeste;

2. zu den vier Quartals-Orationen zu Reminiscere, Trinitatis, Crucis (14. September) und Luciae (13. Dezember), (das sind die oben in Börners Bericht erwähnten vierteljährlichen Redeakte, da eine gelehrte lateinische exegetisch-dogmatische Abhandlung gehalten wurde);

3. zu den Doktorpromotionen;

4. zu den Leichenbegängnissen der Professoren;

5. zu den ausserordentlichen akademischen Festfeiern (Exequien für verstorbene Mitglieder des Herrscherhauses, Regierungsantritte, Regierungsjubiläen des Landesherrn, Erinnerungsfeiern u.s.w.).

So sind die 200-, 300-, 400 Jahrfeiern der Universitätsgründung 1609, 1709, 1809 mit grossem Gepränge in der Paulinerkirche begangen worden, und zwar nicht nur Eröffnungsgottesdienste der Jubelfeiern, gleichsam als feierliche Auftakte wie bei der glänzenden 500 Jahrfeier, sondern die gesamten akademischen Akte und Feierlichkeiten mit all den zahlreichen Reden und Ehrenpromotionen fanden darin statt. Die alte Dominikanerkirche war eben seit 1545 Universitätsaula.

2. Die "neuen Gottesdienste" in der Universitätskirche 1710-1918.

Als Universitätsaula ist die Universitätskirche nun im ganzen Zeiträume von 1545—1710, genauer sogar bis 1836, gebraucht worden. Aber am Ende des 17. Jahrhunderts änderte sich das. Der 30jährige Krieg mit seinem Elend und Jammer hatte die Herzen erweicht und vertieft hatte, die Menschen zu neuem geistlichen Leben erweckt, das kirchliche Leben wuchs infolgedessen ausserordentlich:

seit 1664 wurden regelmässige Busstage in Sachsen eingeführt – sogar sieben in einem Jahr –,

seit 1668 wurde auf Anordnung Johann Georgs II. das Reformationsfest jeden 31. Oktober gefeiert,

der Abendmahls- und Kirchenbesuch steigerte sich,

die Kirchenlieddichtung blühte, es wurde viel gepredigt, kurz, das kirchliche Leben stand in hoher Blüte in diesem Zeitalter der Orthodoxie.

Und an den Landesuniversitäten in unserem Sachsen wurde fleissig gearbeitet, besonders in Dogmatik und Homiletik:

die Glaubenssätze wurden durchgearbeitet,

die Predigtkunst wurde gepflegt;

seit 1624 gab es an unserer Universität ein montägiges Predigerkollegium,

seit 1641 ein donnerstägiges, und dazu noch 30 andere derartige Gesellschaften.

In dieser Zeit fleissiger Kirchlichkeit richtete die theologische Fakultät (1671) ein Gesuch an die Universität und durch diese an den Landesherrn:

dass Sonntags und Feiertags künftighin eine öffentliche Predigt in der Paulin erkirche gehalten werden dürfe.

Allein da sich das Leipziger Konsistorium – Leipzig und Wittenberg hätten ein Konsistorium, Dresden ein Oberkonsistorium – dagegen erklärte, wurde die theologische Fakultät vom Landesherrn abschlägig beschieden.

In demselben Jahre 1671 hatte man in Leipzig auch die Absicht, die alte Franziskaner- oder Barfüsserkirche (unsere jetzige Matthäikirche) wieder zu gottesdienstlichen Zwecken einzurichten. Aber schwere Zeitverhältnisse: Teuerung und Pest machten es unmöglich. Dann waren wieder 30 Jahre fast ins Land gegangen – da war mittlerweile eine neue grosse religiöse Bewegung in der evangelischen Kirche entstanden: der Pietismus erhob weithin seine Stimme mit dem Rufe: viel reichlichere Verkündigung des Wortes Gottes, mehr Gottesdienste!

Und auch in Leipzig kamen nach hartem Kampfe an unserer Universität die pietistischen Gedanken immer mehr zur Herrschaft.

In solchem Hunger und Durst nach reichlicherer Wortverkündigung richtete die Bürgerschaft, die aus eigenem Antrieb Mittel zur Erneuerung der alten Franziskaner- oder Barfüsserkirche gesammelt hatte, 1698 abermals die Bitte an den Rat der Stadt, in dieser Franziskanerkirche fortan öffentlichen Gottesdienst einzurichten.

1699 ward denn auch die alte Barfüsserkirche nach durchgreifender Erneuerung als sogen. "Neue Kirche" feierlich in Gebrauch genommen. Auch für die Studenten wurden darin auf den Emporen – aber nur dort – Plätze freigehalten.

Nur wenig später aber, im Jahre 1702, tauchte auch in Universitätskreisen von neuem der Wunsch auf, in der alten Dominikanerkirche – der Universitätskirche zu St. Pauli – ebenfalls öffentliche Gottesdienste einzurichten. Eine Sammlung von 11 umfänglichen Aktenstücken aus den Rektoratsakten der hiesigen Universität gibt von dem allen Kunde.

Zuerst war der Plan nur inoffiziell und vertraulich im Professorenkollegium besprochen. Die theologische Fakultät, darum ersucht, hatte ein warm befürwortendes Gutachten darüber abgegeben und das Plenum der Professorenschaft gebeten, für diese Absicht energisch einzutreten.

Aber kaum hatte der Rat der Stadt Leipzig von dem Plan gehört, da erhob er auch sofort am 20. März 1702 lebhaften Protest dagegen bei der Universität und bat am gleichen Tage in einem Gesuche an den Kurfürsten Friedrich August I. (den Starken, 1694-1733), die Universität abzuweisen. Friedrich August, der noch gar nichts von dem Plan wusste, forderte nun am 27. März von der Universität Bericht über die Angelegenheit.

Noch ehe die Universität antwortete, hatte der Rat weitere Erkundigungen eingezogen und berichtete nun unterm 3. April Genaueres über den Plan der neuen Universitätsgottesdienste an den Landesherrn, suchte aber dabei dieselben bloss als Ziele einer gewissen Professorenpartei hinzustellen und bat den Landesherrn erneut, die Einführung abzulehnen,

1. da die Universitätskirche nicht zu öffentlichen Gottesdienstzwecken einst der Universität geschenkt sei;

2. da aus diesem Grunde auch die 1671 geplante Einführung vom Landesherrn abgeschlagen sei;

3. da die Stadt genug gute Kirchen und gute Prediger habe, sei also auch kein Bedürfnis.


Am 15. April erst richtete nun die Universität ihr erstes Gesuch an den Kurfürsten: der Kurfürst möge gestatten, dass in der Paulinerkirche zwei ordentliche Prediger, ein Vormittags- und ein Nachmittagsprediger, bestellt würden, die öffentliche Sonntagsgottesdienste hielten und das Abendmahl spenden dürften,

1. weil viele Akademiker und Bürger in den Stadtkirchen keinen Platz mehr fänden, die Stühle seien jahrelang alle in festen Händen;

2. die schöne Universitätskirche aber, zu deren Herrichtung für Gottesdienstzwecke man schon ein Kapital von 2650 Talern und sonstige Dotationen habe, stehe leer und sei doch einst von Herzog Moritz 1543 zu denselben Zwecken, wie sie die Pauler-Mönche gebraucht hätten – also zur Übung des Gottesdienstes – der Universität geschenkt worden. Der Rat habe also gar kein Widerspruchsrecht (jus contra-dicendi) gegen diesen klaren Willen des Landesherrn Moritz;

3. auch die 1699 neueingerichtete "Neue Kirche" habe den Mangel an Kirchenstühlen und also Plätzen für die Besucher der Sonntagsgottesdienste nicht beseitigt.


Ehe der Kurfürst sich entschied, sandte er der Universität inzwischen unterm l. Mai oben erwähntes zweites Gesuch des Rates vom 3. April mit den Gegengründen des Rates, dass öffentliche Gottesdienste in St. Pauli der Schenkungsurkunde widersprächen und auch gar kein Bedürfnis nach mehr Kirchen vorläge.

Am 9. Juni ging dann eine dritte umfangreiche Eingabe des Rates an den Kurfürsten, die unter Beibringung alter und neuer Gründe dringend die Abweisung der Universität erbat: Der Rat leugnet darin, dass Stuhl- und Platzmangel in anderen Kirchen sei, denn

in der Nikolaikirche seien erst vor kurzem 100 neue Stühle eingerichtet,

in der Neuen Kirche seien extra für die Studenten die Emporkirchen freigeblieben.

Sodann suchte der Rat – allerdings durch recht törichte Begründung – die Schenkungsurkunde von 1545 zu seinen Gunsten auszulegen:

1. Die Paulinerkirche sei wohl einst bei ihrer Erbauung zum Gottesdienst bestimmt, aber nur für die Pauler-Mönche und ihren Klostergebrauch. Sie sei nun und nimmermehr als Stadtkirche für die Bürger und Einwohner dieser Stadt zum Gottesdienst bestimmt gewesen. Wir fragen dagegen: warum haben denn die Dominikaner-Mönche dann für ihre 60-80 Klosterinsassen die Paulinerkirche so gross gebant, dass sie 1500 Personen fasste ?

2. Ebenso schwach ist der zweite Ratsgrund: Der Buchstabe der Schenkungsurkunde beweise, dass die Universität mehr nicht als die Gebäude des Pauler-Klosters erhalten, unter anderen auch mit die Kirche und den Kirchhof, aber nicht zum Gebrauch zum Gottesdienst.

Ja, wozu sollten sie denn die Kirche benutzen? und den Friedhof um die Kirche herum – wozu den?

Es liesse sich also, so schliesst der Rat, aus dieser Schenkung der Gebäude eine Benutzung, wie sie die Mönche gehabt, also Anrichtung öffentlichen Gottesdienstes für die Bürger und Stadteinwohner, nicht herleiten.

Ausserdem habe der Rat damals am l. Mai 1543 das Recht erhalten, die Kirchen der Stadt Leipzig und Vorstädte mit Predigern zu versehen, und weil er dieses Recht habe und sich 1671 darauf berufen habe, sei auch das Gesuch der Universität schon 1671 damals abgewiesen worden.

Der Rat bitte also den Kurfürst, ihn in seinem Rechte zu schützen und die Universität auch diesmal abzuweisen.


Diese dritte Eingabe des Rates vom 9. Juni übersandte der Kurfürst am 21. Juni der Universität zur Gegenäusserung. Am 26. Juni 1702 erfolgte offenbar auf einen Druck von oben her, der Berechtigtes in beiden Standpunkten anerkannte, ein Vergleich zwischen Rat und Konsistorium zu Leipzig – und der Universität: Man einigte sich auf folgende Punkte: Universitätsgottesdienste – aber nicht durch besonders bestellte Geistliche, die Amtshandlungen verrichteten und Gebühren dafür erhielten, sondern Universitätsgottesdienste – durch Professoren und Dozenten der Theologie für die Universitätsangehörigen.

Eine Entscheidung des Kurfürsten erfolgte zwar 1702 noch nicht, aber doch waren dem Plane der Universität somit die Wege geebnet. Jedenfalls wurde 1709 – merkwürdigerweise gerade in dem Jahre des 300jährigen Universitätsjubiläums, das mit grossem, dreitägigem Gepränge in St. Pauli gefeiert wurde – ein bedeutender Erneuerungsbau der Universitätskirche begonnen, der bis 1712 dauerte und die Kirche wohl auch mit zum Gebrauch für Gemeindegottesdienste herrichten sollte. Man darf vielleicht wohl gerade aus diesem Umbau mit schliessen, dass die Universität auf baldige Erlaubnis öffentlicher Gottesdienste in St. Pauli sicher hoffte.

Das geschah auch in der Tat.

Auf ein erneutes Gesuch der Universität an den Landesfürsten König Friedrich August I. angesichts des damals "florissanten Zustandes der Universität", öffentliche Gottesdienste vornehmlich zur Erbauung der Universitätsverwandten und der Studiosen gnädigst zu gestatten, erfolgte am 20. August 1710 tatsächlich die Erlaubnis, aber nur unter der Bedingung, dass dazu kein besonderer Geistlicher bestellt würde, sondern dass

Doktoren, Professoren und Baccalaureen der Theologie, auch die Senioren der Prediger-Kollegien die Predigt hielten, der Gottesdienst früh 9 Uhr begänne, und sonst keine anderen geistlichen Amtshandlungen in der Universitätskirche geschähen, durch die die Stadtgeistlichen (in ihren Einnahmen) geschädigt würden.


Trotzdem das Leipziger Konsistorium im Einverständnis mit dem Rate der Stadt durch seine beiden Mitglieder D. Born und Immanuel Horn am 29. August noch einmal dagegen protestierte, wurde der erste öffentliche Gemeindegottesdienst in der Universitätskirche doch am 31. August 1710 – am 11. Sonntag nach Trinit. – abgehalten. Der Professor der Theologie Gottfried Olearius hielt die Predigt über das Sonntagsevangelium.

Dieser erste Gottesdienst hat "unbeschreibliche Freude" erregt — heisst es im Bericht darüber, der am 4. September von der Universität an den Kurfürsten ging. Freilich enthielt dieser Bericht zugleich wieder eine Bitte an den Kurfürsten:

1. Damit die Gottesdienste in St. Pauli vollständige seien, möge der Kurfürst gestatten, dass ein ordinierter Geistlicher am Schlusse vom Altar den Segen spräche — der Prediger von St. Johannes werde sich gegen eine billige Erkenntlichkeit dazu bereit finden lassen;

2. sodann möge der Kurfürst auch Nachmittagspredigt um 4 Uhr in St. Pauli gestatten, dazu habe man in den theologischen Seminariis der Universität tüchtige Subjecta. Da der Kurfürst nicht gleich hörte, wiederholte die Universität ihre Bitte am 12. November 1710.


Mittlerweile hatte der Rat abermals gegen die ganze Einrichtung der Gottesdienste lebhafte Gegenvorstellungen nach Dresden gerichtet. Darauf antwortete die Universität in einem dritten Gesuch an den Kurfürsten am 29. Januar 1711, in dem sie diese Quertreibereien des Rates energisch zurückweist und bittet, die Nachmittagsgottesdienste fürs ganze Jahr zu gestatten.

Erst nach einem 10jährigen erbitterten Kampf, bei dem unzählige Schriftstücke zwischen dem Rat der Stadt Leipzig, dem Konsistorium zu Leipzig, dem Oberkonsistorium in Dresden, dem Kurfürsten und der Universität Leipzig gewechselt worden sind, erst am 20. Mai 1722 erhielt die Universität die Erlaubnis, neben den Frühgottesdiensten auch Nachmittagsgottesdienste abhalten zu dürfen. So war endlich nach gerade 20jährigen Bemühungen die Grottesdienstfrage in der Universitätskirche geregelt für alle Zeiten.

Man wird sich heute vielleicht verwundert fragen: wie kam es, dass eine so edle Sache wie die Einrichtung eines Gottesdienstes in einem fertigen Gotteshause solche Schwierigkeiten und Widerstände finden konnte, Widerstände, die nicht bei einer verständnislosen Behörde lagen, sondern die zu einem grossen Teil bei den theologischen Amtsbrüdern des Leipziger Konsistoriums lagen, die doch wahrlich für eine solche Ausbreitung ihrer Sache, für solches Wachstum der christlichen Verkündigung eher Freude empfinden und sie fördern mussten als sie hindern!

Seien wir gerecht: die Gebühren, die damals für Beichte, Abendmahl, Taufe, Trauungen, Begräbnisse entrichtet werden mussten, bildeten die zu dem geringen festen Gehalt hinzukommenden, ansehnlichen, wenn auch schwankenden Sondereinnahmen (Accidentien) der Stadtgeistlichen. Wurden nun in der Universitätskirche, die ja im Herzen der Stadt inmitten der Thomas- und Nicolaiparochie lag, Gottesdienste und geistliche Amtshandlungen eingerichtet, und gewöhnten sich die Bürger dorthin in die Kirche der Geistesaristokratie, so entging den Stadtgeistlichen ein grosser Teil der ihnen zukommenden Einnahmen.

Bedeutete so die Universitätsgemeindebildung für den einzelnen Geistlichen eine wichtige Frage materieller Art, so war sie für die geistliche Behörde, für das Leipziger Konsistorium, eine Kompetenz- und für den Rat der Stadt eine wichtige Rechts- und Jurisdiktionsfrage.

Das Leipziger Konsistorium beanspruchte nämlich die Oberaufsicht über die Universitätskirche. So widersinnig es auch war, dass Mitglieder des Leipziger Konsistoriums – zum Teil Juristen, Kaufleute, kurz Laien, die von der Theologie nichts verstanden, oder jüngere Geistliche, die eben erst einen theologischen Grad erhalten, oder wohl noch nicht lange die Prüfung auf der Universität bestanden hatten – die Predigt und Lehre bedeutender theologischer Hochschullehrer in der Universitätskirche beaufsichtigen und kritisieren wollten, sie forderten dieses Recht doch.

Der Rat der Stadt Leipzig aber wollte das Patronatsrecht haben über die Universitätskirche, ihre Kultushandlungen, ihre Einnahmen, die Anstellung ihrer Beamten usw., da sie eine Leipziger Kirche sei. So wurde zwischen diesen drei Instanzen: Rat, Konsistorium zu Leipzig und Universität ein 20jähriger heftiger Kampf ausgefochten

mit mancher hässlichen Denunziation der Leipziger Behörden gegen die akademischen Freiheiten, die sich die Universität in gottesdienstlichen Beziehungen erlaubte,

mit manchem energischen Verweis, den sich die oft ziemlich selbstherrliche Universität vom Kurfürsten zuzog,

mit mancher ergötzlichen Verordnung und Verwarnung, über die wir heute herzlich lachen müssen, z. B. wegen eigenmächtigen und zu langen Läutens mit dem kleinen Universitätsglöcklein, die die Universität sich ja nicht einfallen lassen solle zu – vergrössern.

Nun, darin ist sie allerdings ausnahmsweise einmal folgsam gewesen bis heute - noch heute ist das Universitätsglöcklein die kleinste unter ihren Leipziger Schwestern, die mit ihrem bescheidenen Stimmchen zu den schönen Universitätsgottesdiensten ruft; sie ist infolge ihrer Bescheidenheit allerdings auch der einschmelzenden Kriegsfurie entgangen.


So ist nun seit dem 31. August 1710 in der Universitätskirche öffentlicher Sonntagsfrühgottesdienst eingeführt worden.

Seit 1714 aber wurde auch Sonntagsnachmittagsgottesdienst abgehalten, zuerst ohne besondere Erlaubnis, dann seit 1722 (20. Mai) mit Genehmigung des Kurfürsten. Diese öffentlichen Sonntagsgottesdienste hiessen die sogenannten " neuen Gottesdienste" im Gegensatz zu den akademischen Feiern, Doktorpromotionen und anderen Universitätsakten, die in der Kirche bis 1836 als sogenannte "alte Gottesdienste" noch weiter abgehalten wurden. 1836 bekam die Universität im neuerbauten Augusteum endlich eine eigene Universitätsaula.

Die Trauerfeierlichkeiten der Universität finden aber noch heute in der Paulinerkirche statt.

Seit 1834 ist aber durch ein Reskript des Ministeriums vom 13. Januar auch eine viermalige Abendmahlsfeier für Studierende und Universitätsverwandte genehmigt worden, zu Johanni, im August, Ende November und in der Fastenzeit, die aber seit 1836 wegen der Studentenferien in eine zweimalige zusammengezogen wurde, vielleicht auch deswegen, weil die Stadtgeistlichkeit unter Superintendent D. Grossmann unter dem 4. Juli sich darüber beschwerdeführend an das Ministerium gewandt hatte.

Als dann 1848 (15. September) das Beichtgeld aufgehoben wurde, wurde eine Erweiterung der Abendmahlsfeier in St. Pauli genehmigt.

In späteren Jahren ist die Abendmahlsfeier vermutlich aus mangelnder Teilnahme längere Zeit ausgesetzt worden, erst seit 1892 werden wieder regelmässige Abendmahlsfeiem abgehalten, aber die Teilnahme von 100-150 Professoren und Studenten an jeder der zweimaligen jährlichen Abendmahlsfeiern zeigen doch eben, dass der Student diese Feiern lieber im Kreise seiner Familie in den Studentenferien begeht, und der Professor in seiner Parochie, in der er wohnt, der zuständige Abendmahlsgast ist.

Weitere geistliche Amtshandlungen werden auch heutigen Tages noch nicht in der Universitätskirche abgehalten, es sei denn, dass ein Glied des akademischen Lehrkörpers besonders darum nachsucht, dass einmal eine Hochzeit, Taufe in seiner Familie dort stattfinden dürfe. So war es eine besonders eindrucksvolle Feier, als der jetzige Erzbischof von Upsala D. Söderblom, damals noch Professor in Leipzig, seinen Sohn in unserer Universitätskirche nach schwedischem Ritus selbst konfirmierte. Eine Ausnahme ist es auch, wenn nun schon seit etwa zehn Jahren am Palmsonntage, da alle Kirchen Leipzigs besetzt sind, unsere Universitätskirche ihre Pforten am Nachmittag gastlich öffnet zur Konfirmation der schwachsinnigen Kinder der Hilfsschule.

II. Die Musik in der Universitätskirche.

Wie stand es nun mit der Musik in der Universitätskirche in dem ganzen Zeiträume von der Einführung der Reformation 1543 bis heute?

Auch da müssen wir deutlich die beiden Abschnitte voneinander scheiden:

1. Periode: 1543-1710 – die Zeit, in der die Universitätskirche nur Universitätsaula war.

2. Periode: 1710 bis heute, und zwar:

a) 1710-1836 war die Kirche zwar auch noch Universitätsaula nebenbei, bis 1836 das Augusteum errichtet und darin die eigentliche Aula ihre Stätte fand,

b) von 1710 an aber war sie in der Hauptsache Gottesdienststätte.

1. Periode (1543-1710).

In dieser ersten Periode 1543-1710, da die Universitätskirche nur Universitätsaula war und in ihr nur die akademischen Feierlichkeiten, Redeakte, Doktorpromotionen und Leichenbegängnisse stattfanden, ist die Musik wohl nicht so sehr in den Vordergrund getreten. Bei einigen dieser Handlungen wie Redeakten, Doktorpromotionen war sie gewiss ganz gering.

Ein eigenes musikalisches Organ zur Verschönerung aller dieser akademischen Feiern hat sich die Universität jedenfalls in diesem ganzen Zeitabschnitte nicht zugelegt. Sie folgte vielmehr geschichtlichen Zusammenhängen.

Vor der Reformation soll die Musik in der alten Dominikanerkirche zu St. Pauli von dem Thomaskloster und seinem Chore versorgt worden sein. Jedenfalls berufen sich Bach und seine Vorgänger im Thomaskantorate oft auf diesen Zusammenhang, um ihre Stellung in der Universitätskirche zu behaupten – gegenüber eigenen, in der Universität damals entstehenden Musikfaktoren.

So ist es denn nicht verwunderlich, dass man nach der Reformation, als die Universitätskirche nur als Universitätsaula, nicht als Gottesdienststätte benutzt wurde, erst recht für die jetzt viel weniger häufigen Fälle (drei hohe Feste und Reformationsfest, vier Quartalsorationen, die Doktorpromotionen und Leichenbegängnisse, die damals bei dem geringen Umfange der Universität auch seltener vorkamen) – dass man da ebenfalls die Thomaskantoren, die damals einzigen Musikkapazitäten unserer Stadt, mit der Ausführung der Musik in der Universität beauftragte und betraute. Und diese liessen natürlich die Musik in der Universitätskirche durch ihren Thomanerchor, den sie immer zur Hand hatten, ausführen.

So waren die Thomaskantoren von 1543-1710 die unumschränkten Herrscher in der Universitätskirche als die von der Universität beauftragten Directores Chori Musici, die Musik auszuführen und wohl auch zugleich die Orgel zu spielen.

Freilich viele Spuren ihrer musikalischen Tätigkeit finden sich in den Akten der Universität nicht mehr.

Und aus den wenigen Spuren geht eine reiche Mannigfaltigkeit der musikalischen Darbietungen auch nicht hervor. Es wird damals auch nicht anders gewesen sein, wie es heute ist: für immer wiederkehrende ähnliche Feiern mit ähnlichem Charakter werden in treuer Tradition jahrzehntelang dieselben Gesänge und Lieder gewählt – oft bewährte Kompositionen, oft schleppen sich so auch minder wertvolle weiter: ich erinnere in unserer Zeit an das Silvesterlied:

"Des Jahres letzte Stunde", das gewiss musikalisch minderwertig ist und doch der grossen Menge so ans Herz gewachsen ist, dass es auf keinem Programm fehlen darf — wenigstens in Leipzig nicht!

So sangen die Thomaner unter dem Thomaskantor Schelle bei der akademischen Trauerfeier für den Kurfürsten Johann Georg II., 10. Oktober 1680, vor der Leichenrede Carpzows das "Veniet tempus" aus dem Florilegium und hinterher das noch jetzt oft erklingende "Ecce quomodo moritur justus" von Gallus, und genau ebenso 1691 bei der akadem. Gedächtnisfeier für Johann Georg III. Nur der Redner, der die lateinische Gedächtnisrede hielt, ist ein anderer: Prof. Alberti. Die Musik ist dieselbe.

Wenn man so sieht, wie die Thomaskantoren hier in der Universitätskirche bei diesen ganz besonderen, grossen akademischen Gedächtnisfeierlichkeiten für den verstorbenen Landesherrn doch nur zwei schlichte a capella-Sätze aufführen,

dieselben Männer — wie Knüpfer, Schelle, Kuhnau, die eine Menge grösserer Werke und Kantaten auch mit Orchester geschaffen haben, die gerade jetzt unser verdienstvoller Leipziger Musikgelehrter Prof. Dr. Schering der Öffentlichkeit in dankenswerter Weise wieder zugänglich macht,

wenn man das sieht, dann ist es wohl erlaubt, zu schliessen:

1. für die Musik in der Universitätskirche, etwa mit Orchesterbegleitung der Stadtpfeifer, standen wenig Mittel zur Verfügung;

2. die Thomaskantoren waren wohl Directores Chori Musici in der Universitätskirche, aber sie sahen dies als eine Nebentätigkeit an, die sie sogar oft ihren Präfekten überliessen, ihre grossen Werke führten sie natürlich auf dem Platze ihrer Haupttätigkeit auf: in den beiden Stadtkirchen St. Nicolai und Thomas, wo auch Geldmittel für grössere Musiken zur Verfügung waren.

So steht also die Musik in der Universitätskirche in dieser 1. Periode 1543—1710 ausschliesslich unter dem Kennzeichen: Thomaskantor und Thomanerchor.

Mit 1710 aber beginnt nun eine neue Periode.

2. Periode (1710—1918).

Die Universitätskirche ist jetzt nicht mehr bloss Universitätsaula, sie ist jetzt auch wieder Gottesdienststätte wie einst vor der Reformation:

öffentliche Sonntagsgottesdienste finden früh 9 Uhr statt, an denen die Studierenden der Universität, der Lehrkörper mit seinen Familien, alle Universitätsverwandten teilnehmen und von der Bürgerschaft, wer Lust hat, eine akademische Predigt zuhören.

Sonntag, den 31. August 1710 hatte der erste öffentliche Sonntagsgottesdienst stattgefunden. "Grosse Freude hatte in der ganzen Stadt darüber geherrscht", wie es in einem Dankbericht darüber an den Kurfürsten Friedrich August I., den Starken, heisst. Aber einer hatte dabei keine Freude, sondern grossen Kummer gehabt. Das war der damalige Thomaskantor Johann Kuhnau. "Ich habe gestern", so schrieb er gleich Montag, den 1. September, in einer Beschwerdeschrift an die Magnifici, Hochedlen und Hochgelahrten, Herren und Patrone der Universität, "nicht ohne chagrin sehen müssen, dass am verwichenen Freitag die Orgelschlüssel der Paulinerorgel darum sind von mir abgeholet worden, dass ein anderer das Werk dabei spielen sollte." So hatte also an diesem ersten der sogenannten "neuen Gottesdienste" in St. Pauli ein anderer als der mit den "alten Gottesdiensten" beauftragte Thomaskantor Orgel gespielt. Eine Kirchenmusik war offenbar dabei nicht aufgeführt worden.

Und nun bittet Kuhnau rührend, ihm doch die Schlüssel zur Orgel wieder einzuhändigen und ihm Orgelspiel und Kirchenmusik auch in den neuen Gottesdiensten zu übertragen, da er sie Sonntags sehr gut neben seinem Thomaskantorate ausführen könne. In den Stadtkirchen wäre ja der Sonntags-Frühgottesdienst um 7 Uhr, die Predigt dabei von 8-9, die Liturgie und Musik nach der Predigt wohl noch von 9-10, ½11, auch 11 Uhr, aber diese Musik nach der Predigt wäre nicht mehr so wichtig wie die vor der Predigt, die könnte auch ein geübter Schüler, Präfekt oder Student zu Ende führen, so dass der Thomaskantor um 9 Uhr zum Anfang in St. Pauli sein könne. Am Schlusse seines Gesuches vom l. September bot Kuhnau der Universität seine Dienste für die neuen Gottesdienste "um das wenige, was einem anderen gegeben werde – er scheint die Freigebigkeit der Universität schon gekannt zu haben – oder auch um nichts an".

Dieses kostenlose Anerbieten scheint bei der Universität durchgeschlagen zu haben: Kuhnau ward vorläufig auch für die neuen Gottesdienste als Musikfaktor beibehalten.

Allerdings zu Weihnachten 1710 traf ihn eine erneute Bedrohung in seinem Amte: an den Weihnachtsfeiertagen 1710 hatte mit Erlaubnis und Zustimmung der Universität der alte Thomaner und ehemalige Schüler Kuhnaus stud. jur. Johann Friedrich Fasch mit seinem, von ihm dirigierten, aus Studenten bestehenden Musikverein (Collegium Musicum) die Weihnachtskirchenmusik ausgeführt. Wenige Tage später (29. Dezember 1710) bat nun Fasch in einem dringlichen Gesuch an die Universität, dass er mit seinen Kommilitonen auch zu Neujahr und allen darauffolgenden Sonn- und Festtagen, so oft es der Universität beliebe, die Musik ausführen dürfe. Er führt dafür gegen seinen Lehrer Kuhnau folgende Punkte ins Feld:

1. Es sind "neue Gottesdienste" gegenüber den alten Gottesdiensten (d. s. jene Redeakte, Doktorpromotionen, vier hohe Feste), die dem Thomaskantor verbleiben sollten;

2. Kuhnau könne unmöglich alle Gottesdienste selbst leiten und besorgen;

3. der Rat verweigere künftig zur Universitätskirchenmusik die Instrumente aus den Stadtkirchen;

4. weil Kuhnau genug in Thomas und Nikolai zu tun habe, habe ihm auch der Rat die neueingerichteten Gottesdienste in der neuen Kirche (Matthäikirche) nicht übertragen.

5. Kuhnau könne ohne Studenten keine vollstimmige Musik machen;

6. an allen Akademien werde die akademische Kirchenmusik jetzt von Studenten oder einem Collegium Musicum bestellt und dirigiert; in Leipzig sei dies um so eher möglich, da in Faschs Collegium Musicum kein Mangel an musikalischen Instrumenten sei, die nicht erst mit grossen Kosten brauchten angeschafft zu werden;

7. Kuhnau könne sein Versprechen, die Musik in der Universitätskirche mit lauter Studenten – nicht mehr den Thomanern – zu versorgen, nicht ausführen, da kein einziger aus den Collegiis musicis (es gab damais schon mehrere solche) bei ihm mehr mitspielen wolle;

8. endlich sei es Pflicht der Universität auch für die Ausbildung ihrer Glieder in der Kunst zu sorgen und darum den Musikbeflissenen Aufgaben anzuvertrauen, wie z. B. die Musik in der Universitätskirche.

Sein Kollegium wolle das ohne Entgelt und ohne eine zu erhoffen habende Erkenntlichkeit gern tun.


Man sieht: eine neue Zeit ist angebrochen. Auf der Universität herrschte um 1700 ein reger Musikbetrieb. In den Collegiis Musicis, die ein besonders musikalischer Student um sich sammelte, wurde vor allem Instrumental-, doch auch Vokalmusik gepflegt. Neben Telemanns berühmtem Collegium Musicum blühten bald die Collegia musica Faschs, Görners und anderer Männer, Selbst die Primaner der Thomasschule hatten ein solches Collogium Musicum.

Von diesem Gesuche Faschs musste Kuhnau vorher erfahren haben, denn am nächsten Tage schon machte er seinerseits ebenfalls eine Eingabe an die Universität, in der er ausführte, dass er doch Musik und Orgelspiel nicht nur bei dem alten, sondern jetzt seit ½ Jahr auch bei dem neuen Gottesdienste jederzeit pünktlich und eigenhändig besorgt habe, darum sei er tief gekränkt, dass einer seiner ehemaligen Schüler, der noch dazu mit dem Kirchenmusikstile recht wenig vertraut sei, mit seinem Collegio Musico die Weihnachtsmusik ausgeführt habe.

Wenn die Universität seinen gesamten Thomanerchor, den sie leicht haben könnte, nicht mehr haben wollte, so könne er leicht auch mit Studenten und einigen Stadtpfeifern die Kirchenmusik in St. Pauli stellen. Er wolle auch für Kirchenmusik und Orgelspiel in diesen neuen Gottesdiensten kein Gehalt haben, sondern mit dem bisherigen Traktament vorlieb nehmen, d.h. zufrieden sein mit dem, was die Universität für die Dienstleistungen bei den alten akademischen Feiern bezahlt hatte.

Dieses billige Angebot und vielleicht die Erwägung, dass der schon seit 1708 studierende Fasch die Universität bald verlassen würde und die Musik in der Universitätskirche dann ins Stocken kommen möchte, hat die Universität bewogen, Kuhnaus Dienste auch für die neuen Gottesdienste in St. Pauli weiter in Anspruch zu nehmen.

Kuhnau hätte nun diese damals unter der Studentenschaft herrschende Lust am Musizieren benutzen und für sich und seine Zwecke ein Collegium Musicum gründen müssen, um damit die Kirchenmusik in St. Pauli zu fördern, aber dazu war Kuhnau zu wenig unternehmungslustig und wagemutig, vielleicht auch dem Zeitgeschmacke gegenüber zu konservativ.

Er hat gewiss mit Hilfe seiner Thomaner – deren Leistungen damals ziemlich tief standen – und einiger wenigen, ihm verpflichteten Thomaner-Studenten die Musik in St. Pauli im alten Fahrwasser weitergeführt.

Nur an den beiden Reformationsfesten 1716 und 1717 hat er auch in der Universitätskirche einmal grössere Anstrengungen gemacht. 1716 führte er eine dreichörige lateinische Ode auf und 1717 zur 200 jährigen Reformationsfeier eine dreichörige konzertierende Festmusik, wobei der erste Chor auf dem Raum vor der neuerbauten (1716) Orgel stand, Chor zwei und drei aber mit ihren Instrumentisten und je einem Positiv auf der Ostempore am Augustusplatz, der Orgel gegenüber, aufgestellt waren.

An diese neue Orgel in St. Pauli, die 1717 fertig war, wurde zunächst 1718-1720 Gottlieb Zetzsch, dann als zweiter ständiger Organist Johann Gottlieb Görner (*1697) ein 19 jähriger musikalischer Student berufen, der sich bald in verhängnisvoller Weise so in der Gunst der Universität festsetzte, dass er später einem Bach den Weg an der Universität mit Erfolg versperrte. Und er war doch nur ein höchst mittelmässiger Musiker, über den später ein damaliger Leipziger Kunstgenosse, Joh. Adolf Scheibe, 1737 das harte Urteil fällte:

"Er (Görner) hat die Musik seit vielen Jahren getrieben, und man sollte meinen, die Erfahrung habe ihn auch einmal auf den rechten Weg geführt, allein es ist nichts Unordentlicheres als seine Musik. Die Regeln (der Satzkunst) sind solche Sachen, die er täglich entbehren kann, weil er sie nicht weiss. Er setzt keine Zeile, und die gröbsten Schnitzer sind die Zieraten aller Takte."


Das ist hart, und man wird gewiss manches kollegialer Eifersucht auf den begünstigten Görner zuschreiben müssen, aber wenn auch nur die Hälfte davon wahr ist, so versteht man noch heute nicht, wie ein solcher Musiker neben Bach sich hat halten – ja, ihn hat ausstechen können.

Aber Görner hatte mächtige Gönner an der Universität und verstand, dieselben für sich einzuspannen. Dazu waren Zeitumstände und Glück ihm günstig.

Als Kuhnau am 5. Juni 1722 †, blieb das Thomaskantorat ein ganzes Jahr lang verwaist, denn der zuerst vom Rat zum Nachfolger gewählte Telemann schrieb von Hamburg aus wieder ab, dem sodann vom Rat gewählten Hofkapellmeister Christoph Graupner aus Darmstadt verweigerte der Landgraf von Hessen die Entlassung, endlich am 5. Mai 1723 wurde Bach einstimmig gewählt.

Dieses lange Interregnum kam dem rührigen Görner, der damals Organist an der Nikolaikirche war, zugute.

Von seiner einjährigen Organistentätigkeit an St. Pauli her (1720-1721, ihm folgte dort von 1721-1773, also 53 Jahre lang als Organist der schlichte Musiker Johann Christoph Thiele, der keinerlei musikalischen Ehrgeiz besass) hatte Görner noch gute Beziehungen zur Universität, er erreichte es infolgedessen, dass ihm in dieser Vakanz das Directorium Chori Musici in der Universitätskirche für die alten und neuen Gottesdienste einstweilen vertretungsweise übertragen wurde.

Dass es das Ziel seines Ehrgeizes war, dies für immer zu behalten, sehen wir aus der Zähigkeit, mit der er nun den Kampf mit dem neuen Thomaskantor aufnahm.

Aber Johann Sebastian Bach wusste, was er wollte.

Er war nicht gesonnen, diese nebenamtliche Tätigkeit des Thomaskantors dort in St. Pauli, die seine Vorgänger seit Alters her besassen, aufzugeben. Sie war zwar nicht mit einem bedeutenden Honorar, wohl aber mit einem klangvollen Titel verbunden und bot vor allem die Möglichkeit, mit der akademischen Jugend, die damals ein wesentlicher Faktor im Musikleben Leipzigs war, in amtliche und künstlerische Berührung zu kommen.

So begann nun ein interessanter Kampf zwischen diesen beiden Männern Bach und Görner, bei dem – Görner siegte. Die Universität entschied sich – gegen Bach. Man wird das bei den musikalischen Qualitäten beider unbegreiflich finden, und doch soll zum Verständnis für diese merkwürdige Entscheidung unserer Leipziger Alma mater einiges gesagt werden:

Der Thomaskantor musste die Musik in St. Pauli als Nebenamt behandeln und konnte jetzt, da seit 1710 noch volle Sonntagsgottesdienste in St. Pauli hinzugekommen waren, diese Musik mit dem besten Willen nicht ordnungsgemäss und zufriedenstellend ausführen, zudem konnte der Rat der Stadt ja auch jeden Augenblick den Thomanern die Mitwirkung in St. Pauli wegen Überbürdung untersagen – und er hat es ja später auch mehrmals getan.

Dagegen bot sich jetzt gerade die Aussicht, bei der gesteigerten Musiklust unter den Studenten einen eigenen Chor und Orchester an der Universität zu haben – Görner als Organist an Nikolai war ja zwar auch nicht ganz frei, aber er hatte doch wenigstens keine Chormusik zu liefern wie Bach, dazu besass er seit längerem ein florierendes Collegium Musicum (vielleicht das Faschs?).

Bach dagegen war neu, vielleicht wusste er sich mit den Studenten ebenso wenig zu stellen wie Kuhnau. Dazu hatte sich Görner in der Vakanz 1722-1723 offenbar bewährt und die Kirchenmusik in St. Pauli zur Zufriedenheit der Universität erledigt – kurz: die Universität entschied sich für Görner, und der Kurfürst von Sachsen stimmte zu: Görner wurde Director Chori Musici der neuen Gottesdienste in der Universität, auch die Musik bei den solennen ausserordentlichen Festakten der Universität wurde ihm übertragen.

Bach dagegen, der sich mehrmals beim Landesfürsten beschwerte und in scharfer und schonungsloser Weise die Universität und ihre ganze Handlungsweise angegriffen und blossgelegt hatte, erhielt die alten Gottesdienste und das ihm vorenthaltene Honorar durch landesfürstlichen Entscheid 1726 zugesprochen.

So hatte die Universität jetzt zwei Universitäts-Musikdirektoren, über die die Rektoratsakten noch manches Interessante berichten. Wenn nun Spitta in seiner grossen Bachbiographie, Bd. II, S. 49 behauptet, dass für die ausserordentlichen Universitätsfeiern bald dieser, bald jener der beiden Rivalen herangezogen worden sei, häufiger jedoch Bach, so erweist sich dies doch bei näherer Untersuchung als nicht stichhaltig. Die Ergebnisse aus 20 Aktenbänden, die solche ausserordentliche, solenne Universitätsfeiern schildern, bei denen die Musik stark beteiligt war, gaben vielmehr folgendes Bild:

bei offiziellen, von der Universität in der Universitätskirche veranstalteten ausserordentlichen Feiern (Trauerfeiern, Krönungs-, Hochzeitsfeiern der Landesfürsten) komponierte Bach zweimal die Musik, Görner aber siebenmal,

dagegen bei den inoffiziellen studentischen Fackelzügen und Abendmusiken, die man einer Fürstlichkeit bei ihrer Anwesenheit in Leipzig brachte, wählten die Studenten achtmal Bach, dass er ihnen die Festmusik komponiere und nur dreimal Görner.

Demnach bietet die Musik in der Universitätskirche 1710-1770 folgendes Bild: In den "alten Gottesdiensten" musizierte Bach meist mit seinen Thomanern, und zwar an den Redeakten die üblichen oben erwähnten traditionellen Motetten, an den hohen Festen gewiss eigene Kantaten. In den "neuen Sonntags-Gemeinde-Gottesdiensten" musizierte Görner mit den Studenten seines Collegium Musicum, wobei die Mehrzahl als Instrumentalisten mitwirkten, die kleinere Zahl als Sänger. Das Verhältnis dabei war 3:2. Die Sopran- und Altstimmen sangen damals Studenten im Falsett.

Nach Bachs Tode 1750 scheint Görner die gesamten Gottesdienste in St. Pauli versorgt zu haben bis an sein spätes Lebensende. Im Jahre 1769 erhielt der alternde Görner (Görner † erst 1778) als Stellvertreter den Thomaskantor Joh. Friedr. Doles zur Seite gestellt, der von 1769 bis 1778 Director Chori Musici in der Universitätskirche war (Thomaskantor war Doles 1756—1789).

Doles gebrauchte neben den Studenten wieder die Alumnen der Thomasschule zur Musik in St. Pauli.

Plötzlich wurde ihm dies aber vom Rate der Stadt wegen Überbürdung und eigener Gesangspflichten der Schüler untersagt. Da machte Doles an die Universität das sehr verständige Gesuch, einen eigenen festen Universitätschor zu gründen, indem man solchen Studenten, die sich verpflichteten, in der Kirchenmusik in St. Pauli pünktlich und regelmässig mitzuhelfen, eine feste Belohnung (Stipendium) verwilligte. Nur mit solchen festen, zuverlässigen Sängern, nicht freiwilligen, könne er das aufgetragene Amt so führen, wie er sollte und wie er selbst es wünschte.

Aber Doles' Gesuch vom 11. Juni 1778 an den Rektor der Universität fand kein Gehör, es scheiterte an der Sparsamkeit der Alma mater oder an ihrer Indifferenz – oder an beiden. Da der Rat ausserdem auch dem Thomaskantor selbst nahe gelegt hatte, das Amt an der Universitätskirche niederzulegen – wie er es damals allen in Ratsdiensten stehenden Personen untersagt hatte, "diese Stelle zu suchen" – so legte Doles 1778 gern das Amt des Universitätsmusikdirektors nieder. Um seine Stelle hatte sich nur ein einziger, allerdings tüchtiger Musiker beworben: Johann Adam Hiller, Kapellmeister der Liebhaberkonzerte im Königshaus und Leiter einer berühmten Chorgesangsschule, also ein Mann, der Vokalisten und Instrumentalisten zur Hand hatte.

Er brachte ein Programm mit:

er wollte in einer Kirche zeigen, wie das Opernmässige und Theatralische in der Kirchenmusik vermieden werden könne und müsse, und so sollte St. Pauli gleichsam eine öffentliche Bildungsstätte tüchtiger Kirchenmusiker werden (Akademie für Kirchenmusik!).

Dieses Programm und die Aussicht, dass die Universität so für den Musikbetrieb eine führende Stelle einnehmen sollte, gefielen der Universität. Und ebenso sehr gefiel ihr, dass Hiller auch zugleich die ausführenden Organe zu solcher Musik aus dem von ihm geleiteten Konzert mitbringen wollte: 12 Vokalisten und die nötige Anzahl Instrumentalisten.

So ward er 1778 zum Director Chori Musici bestellt. Er blieb es aber nur bis 1785. Da ward er zum Herzoglichen Kapellmeister nach Kurland berufen. Um seine Stelle bewarben sich 1785:

Johann Gottfried Schicht, ein in der Komposition und Direktion erfahrener Musiker, und

Johann Georg Häser, st. jur., Privatmusiker und Vorspieler im öffentlichen Konzert, Mitglied des Theater- und Gewandhausorchesters.

Da aber Schicht 1785 Dirigent der 1781 entstandenen Gewandhauskonzerte wurde, wählte die Universität Häser, der von 1785-1809 Director Chori Musici an der Universitätskirche war.

Mit Neid habe ich Häsers Inventarverzeichnis der Musikinstrumente gelesen, die er 1785 bei seinem Amtsantritte übernommen, die dem Fundus der Universitätskirche gehörten, wie

l Paar Pauken 4 Posaunen 2 Kontrabässe 2 Violen

l Paar Trompeten 2 Paar Hömer 2 Cellis 10 Violinen

Von all den gewiss auch guten Instrumenten, die so im Laufe der Zeit angeschafft waren, ist jetzt absolut nichts mehr vorhanden. Als Anfang eines neuen, so nötigen Instrumenteninventars habe ich ein Paar Paukenschlägel für 4 Mark erworben. Vielleicht rührt einen der verehrten Leser unsere jetzige Armut – wir sind für jedes gute Instrument von Herzen dankbar – auch für die Mittel zu seiner Beschaffung!

Mit welchen Kräften führte nun Häser die Universitätsmusik aus?

Viele Mittel standen ihm nicht zur Verfügung. Ausser seinem Gehalt von 50 Talern und 7 Talern zur Erhaltung der Instrumente erhielt er nichts von der Universität. In einem Attest vom 24. Juli 1792 bescheinigte die Universität ihm, dass die Musiker, mit denen er die Musik in der Universitätskirche ausführte, "von niemand honorieret und also von ihm bloss erbeten seien".

Dass Häser unter diesen Umständen nicht viel Musik aufführen konnte, ist klar. Man kann nicht immer nur die Liebenswürdigkeit der Musiker in Anspruch nehmen. Er wird also nur an besonderen Universitätsfesten Musik geboten haben, aber an regelmässige Sonntagskirchenmusik wird nicht zu denken gewesen sein.

So war es auch unter Johann Gottfried Schicht (st. jur. * 1753), dem damaligen Gewandhausdirigenten und Organisten der Neukirche. Er ward 1809 Director Musices an der Universität,

"da er, wie es in dem Aktenstück über ihn heisst, viele Noten besass und die Bekanntschaft mit

jungen Musikern, die gern in der Kirchenmusik in St. Pauli mithelfen würden".

Aus dem, was ihn also zum Universitätsmusikdirektor qualifizierte, sieht man schon, auf was für Kräfte man damals bei der Universitätsmusik rechnete.

Schon 1810 aber verzichtete Schicht wieder auf diesen Posten, da er nämlich 1810 Thomaskantor geworden war, der Rat aber nicht gestattete, dass er zwei Ämter verwaltete. Schicht hatte zu seinen Musiken in der Universität neben den Mitgliedern des grossen Konzerts und einigen Stadtpfeifern auch eine Anzahl Thomaner verwendet. In seiner kurzen Amtszeit an der Universität fiel am 4. Dezember 1809 die 400jährige Universitätsjubelfeier, bei der er den Einleitungschor der Haydensche Schöpfung mit eigens für den Jubeltag passendem neuen Texte aufführte. Sonntag, den 2. September 1810 aber zur Jahrhundertfeier des ersten neuen Gottesdienstes von 1710 führte er ebenfalls eine grosse Kirchenmusik auf, die 34 Taler kostete, die besonders dazu verwilligt waren; davon bekamen 24 Sänger der Thomasschule 10 Taler. Aber für die andern Musiker hatte Schicht 65 Taler ausgegeben. Um deren Rückerstattung bat er mehrmals. Immer wurde er wieder abgewiesen, trotzdem er versicherte, "er habe keinen unnötigen Aufwand gemacht, nur so viel, wie unumgänglich nötig war, wenn sich die Universität ihrer Kirchenmusik nicht schämen soll". In seiner letzten Bitte um endliche Vergütung, ersucht der erzürnte Schicht, "dann wenigstens das Geld nebst einem Honorar von 100 Talern für die von ihm gefertigte Komposition beim 400 jährigen Universitätsjubiläum aus den vom König bewilligten Nachschussgeldem zu decken".

In der ganzen nächsten Zeit 1810-1848 wurde das Amt des Universitätsmusikdirektors immer mehr ein leerer Titel ohne bestimmte musikalische Gegenleistungen. Die nächsten Träger derselben sind der Reihe nach die Dirigenten der 1802 entstandenen Leipziger Singakademie, die zugleich meist auch die Dirigenten der grossen (Gewandhaus-) Konzerte waren.

Es ist die Zeit der aufblühenden Gesellschaftsmusik: Vereine musikalischer und sangeslustiger Bürgerkreise entstehen, die die Vokalmusik pflegen oder mit einem Berufsorchester zusammen grössere Werke geistlicher und weltlicher Musik aufführen.

So wurden alle grösseren Werke in der Zeit von 1810 bis 1850 in den grossen Konzerten und in der Kirche von dieser Singakademie aufgeführt (Riedelverein und Bachverein entstanden erst nach 1850).

So half diese Singakademie auch bei den wichtigeren akademischen Festlichkeiten aus, und ihre Dirigenten wurden zum Dank dafür zu Universitätsmusikdirektoren ernannt.

Und wiederum, um ihren Zusammenhang mit der Universität zu dokumentieren und "um den Studierenden Gelegenheit zur Ausbildung im Solo- und Chorgesang zu geben", führte sie ihre eigenen geistlichen Konzerte auch in der Paulinerkirche auf. So kam es, dass alle die grossen Werke von 1810 bis 1850 ihre ersten Leipziger Aufführungen in der Universitätskirche erlebten. Erst von 1850 an, nachdem dieser Zusammenhang gelöst, trat die Thomaskirche an ihre Stelle.

Die nächsten Singakademie- und Universitätsmusikdirektoren heissen nun:

Friedrich Schneider 1810-1818. 1807 Organist an St. Pauli, 1813 Organist an St. Thomas, 1817

Musikdirektor am Stadttheater (der "Weltgerichts-Schneider").

Johann Christian Schulz, der den Titel 1818 erhielt, "da die Singakademie beim Tage des

Regierungsjubiläums des Königs in der Universitätsfeier sich ausgezeichnet hatte".

Christian August Pohlenz † 1843.

Ernst Friedrich Richter, 1843-1847.

Auf sein Gesuch, "ihm die Stelle eines Universitätsmusikdirektors zu übertragen und ihm somit durch diese ehrenvolle Stellung einen weiteren oder grösseren Einfluss in seinen Kunstbestrebungen zu gewähren", verlieh ihm der akademische Senat am 27. Juli 1843 den Titel eines Universitätsmusikdirektors in der Erwartung und unter der Bedingung, "dass Sie bei etwa vorkommenden Gelegenheiten den von seiten der Universität an Sie ergehenden Aufforderungen zur Leitung einer musikalischen Aufführung bereitwillig entsprechen werden".

So hatte also in diesen ganzen Jahrzehnten (1810–1850 etwa) die Leipziger Singakademie – in der später auch einige Studenten mitsangen – bei einzelnen Festakten in der Universität die Musik gestellt, und zwar bis 1836 noch in der Kirche und von 1836 an in der neuen Universitätsaula im Augusteum. Allein diese Leistungen wurden mit der Zeit immer seltener. Die Konzertaufführungen in der Paulinerkirche kommen ja dabei nicht in Betracht.

Aber wer musizierte denn in den gewöhnlichen Universitätsgottesdiensten an Sonn- und Festtagen? Die Singakademie gewiss nicht. Höchstwahrscheinlich seit 1810 gar niemand.

Darum wurde es sonderlich von der Universitätskirche mit grosser Freude begrüsst, als sich im S./S. 1822 eine kleine Anzahl musikalischer Studenten der Theologie zusammenfanden, die aus eigenem Antriebe die Universitätsgottesdienste durch geistliche Lieder für Männerchor zu verschönen suchten. Als sie bemerkten, dass ihr "schönes Werk" Anklang fand, wiederholten sie es öfters. Der Organist der Kirche, Gottheit Traugott Wagner, nahm sich der Sänger an, und so entstand in der Kirche und für die Kirche zu St. Pauli – der Sängerverein zu St. Pauli.

Bald erbaten und erhielten die studentischen Sänger durch die Universität freundliche Förderung durch Gewährung von Mitteln zur Miete von Übungssaal und Instrument und Verleihung von einigen Konviktstellen. Der Verein wuchs von 16 auf 28 Mitglieder (1831). Nach Wagner (1823-1832) übernahm der Organist August Geissler (1832-1843) die Direktion.

Sehr verdient machte sich der Verein, als er im Anfange mit dem Kantor der Kirche zusammen auch die Leitung des Choralgesanges und die Führung bei den von Universitätsprediger D. Krehl 1834 eingeführte Responsorien übernahm. Gar bald erweiterte der junge Studentenverein seine Ziele: neben dem geistlichen Lied wurde das weltliche Lied gepflegt, und gar bald trat dies schon wegen seiner reicheren Literatur in den Vordergrund.

Der Verein wuchs dadurch noch mehr, besonders als der sangesfrohe, unternehmungslustige hochmusikalische Organist Hermann Langer an die Spitze des Vereins trat, 1843-1887. Er führte den Pauliner-Verein zu einer grossen Blüte auf dem Gebiete des weltlichen Männerchorliedes. Freilich mit dieser erweiterten Pflege des deutschen weltlichen Liedes trat naturgemäss ein gewisses Nachlassen der kirchenmusikalischen Bestrebungen des Vereins ein. Das lag indes auch mit daran, dass es eben nicht genug geistliche Literatur gab, ein Mangel, der auch heute noch ständige gottesdienstliche Aufführung von Kirchenmusiken durch Männerchöre unmöglich macht.

Als dann nach der Ansicht des akademischen Senates auch der Gemeindegesang besonders bei den Nachmittagsgottesdiensten nicht mehr genug und nicht regelmässig von den Studenten geleitet wurde, suchte man zwar erst durch erhöhte Stipendien einige Mitglieder als sogenannte Vorsänger fest zu verpflichten. Auch das half aber nur für kurze Zeit. Dazu kam noch, dass die meisten auswärtigen Studenten in den Ferien verreist waren und der Kirchengesang so in diesen langen Studentenferien verwaist war – besonders gerade an den hohen Festen.

So begann sich das Band, das den Paulus mit der Universitätskirche verknüpfte, etwas zu lockern, besonders als der Verein 1846 eine neue Aufgabe empfing, indem er zum ersten Male bei einer Universitätsfeier (Rektorwechsel) anstelle der Singakademie in der Aula gesungen hatte. Ich kann mich jetzt kurz fassen und brauche beide Linien nicht weiter zu verfolgen.

Ich setze nur noch drei Daten hierher:

1874 wurde Langer zum Universitätsmusikdirektor ernannt: damit erhielt er nicht nur den Titel, sondern auch den Auftrag, mit dem Universitätssängerverein zu St. Pauli bis auf weiteres in den Universitätsfeierlichkeiten die Musik zu übernehmen; nebenbei singt er auch noch ab und zu einmal in der Universitätskirche.

Aber die Leitung der Universitätskirche hat doch in Ansehung obiger Mängel:

der geringeren Pflege der geistlichen Musik, des Mangels an geistlicher Männerchorliteratur, der Ortsabwesenheit auswärtiger Studenten gerade bei den in die Ferien fallenden hohen Festen,

seit der Erneuerung der Universitätskirche 1898 sich einen eigenen Kirchenchor zugelegt, der 1906 durch die Herren Geheimräte D. Rietschel und D. Ihmels und dem Verfasser dieser Darstellung in einen Universitäts-Kirchenchor zu St. Pauli auf akademischer Grundlage (Studenten, Studentinnen, Professorendamen und Studentenschwestern) umgewandelt worden ist.

Dieser neue Universitäts-Kirchenchor zu St.Pauli, der aus etwa 80 Mitgliedern besteht, ist ein freiwilliger Chor, der alle 14 Tage den Gottesdienst in der Universitätskirche mit einer Kirchenmusik ausschmückt, und zwar teils durch a capella-Chöre, teils auch unterstützt durch das Studentenorchester, das der Leiter des Chores 1912 zu diesem Zwecke ins Leben gerufen hat.

Neben der gottesdienstlichen Musik pflegt aber der Chor die Musica sacra auch sonst noch in reicher Weise. Um die Studierenden, sowohl als Mitwirkende wie als Hörende, mit den Schätzen edelster geistlicher Musik der Vergangenheit, vor allem aber der Gegenwart – auch der fremder Völker – bekannt zu machen, veranstaltet er im Jahre vier bis fünf Kirchenkonzerte in Leipzig, ausserdem im Sommer regelmässig eine Konzertfahrt nach auswärts.

So sucht er durch musikalische Darbietungen unter religiösen Leitgedanken nicht nur die akademische Jugend und die Besucher der Universitätskirche zu erbauen und zu vertiefen, sondern er ist bestrebt, die Studierenden auch zubilden durch Konzerte unter bestimmten musikgeschichtlichen Gesichtspunkten, wie z. B. "Finnische Kirchenmusik" (1911), "Flämische Kirchenmusik" (1912), "Schwedisch-norwegische Kirchenmusik" (1912), "Dänische Kirchenmusik" (1913), "Neueste deutsche Kirchenmusik" (jedes Jahr ein Konzert), Brahms-Herzogenberg u.a., oder durch Vorführung grösserer Chorwerke mit Orchester, wie z. B. C-Dur-Messe von Beethoven, "Totenfeier", "Königs-Psalm", "Weihnachts-Oratorium" von Herzogenberg, "Reformations-Kantate" von Hildebrand, ,Das heilige Land" von Malling u.a.

Besonders will er auch die Theologiestudierenden in die Schätze der Kirchenmusik einführen und ihnen für ihr späteres Amt durch Auswahl, Vorführung neuer Arten (Wechselgesänge!) dienstbar sein. Endlich will er durch seine Konzertreisen nach auswärts (wie Dessau, Eisenach, Gosslar, "Wernigerode, Saalfeld, Chemnitz, Hamburg, Lübeck, Kiel u.a.) nicht nur den Mitgliedern für ihre treuen, selbstlosen, regelmässigen Dienste in St. Pauli eine Freude bereiten, sondern zugleich der Kunst dienen und durch Vorführung von "Leipziger, Sächsischer Kirchenmusik der Gegenwart" zeigen, wie die Musica sacra auch heute noch in Leipzig und im Sachsenlande eine bedeutsame Pflege findet.

Unser kurzer Gang durch die Kirchenmusik in der Universitätskirche hat uns ein wechselvolles Bild gezeigt: Lange Zeit hat die Universität für ihre Musik die verschiedensten fremden Kräfte in Anspruch nehmen müssen. Das war einer Universität wie der Leipziger nicht würdig. Mehrfache Versuche, sich eigene musikalische Organe zu schaffen, scheiterten an dem mangelnden Interesse der Universität in künstlerisch-musikalischen Fragen und an ihrer von Jahr zu Jahr wechselnden Leitung. Oder diese Versuche erwiesen sich, wenigstens für die gottesdienstlichen Kirchenmusikzwecke, auf die Dauer nicht als brauchbar.

Endlich hat sich die Universität für ihre Kirchenmusik einen eigenen Universitäts-Kirchenchor geschaffen, der nun über 20 Jahre besteht und sich im Musikleben Leipzigs seine Stellung erobert hat.

Aber wenn der Chor seiner erzieherischen und künstlerisch-bildenden Tätigkeit so gerecht werden will, wie man es von der Leipziger Universität erwartet, bedarf er auch in Zukunft des Wohlwollens und der tatkräftigen Förderung aller Behörden und Freunde der Musica sacra.