aus dem Forum Wiederaufbau Paulinerkirche Leipzig (7666)

geschrieben am 30. Mai 2006 01:48:37:

4.3 Transparenz - Stasi-Metamorphosen ab 1989

Die kurze Nennung der unterschiedlichen Spitzelbereiche mag verständlich machen, daß in Leipzig Spannungsfelder existieren, die einzigartig für die ehemalige DDR waren und weiterhin sind. Dieses Profil begründete sich u.a. darin, daß zweimal jährlich zur Frühjahrs- und zur Herbstmesse der „Klassenfeind“ direkt in Leipzig vor Ort war und folglich entsprechende „Kräfte“ sich dauerhaft in der Messestadt konzentriert und eingerichtet hatten.

Dies hatte zweifellos gravierende Auswirkungen auf alle Prozesse, die heute mit dem Begriff „Wende“ bzw. „friedliche Revolution“ in Verbindung gebracht werden.

In Wirklichkeit gab es in Leipzig einzigartige Anstrengungen, damit der Unterdrückungsapparat der SED unter anderen Bedingungen weiter wirken kann. Dies wird heutzutage oft mit dem Begriff „Filz“ verniedlicht und verharmlost. In Wahrheit geht es um das weitere Agieren und um Macht geheimdienstlich geschulter bzw. abhängiger Kader zur Ausnutzung eines demokratischen Rechtsstaates.

D.h. mit dem Jahre 1989 geschah nicht etwa eine bloße Abwicklung ehemaliger DDR-Strukturen, sondern es vollzog sich eine organisierte und gezielte Einbringung in alle Entwicklungen im Zuge der Deutschen Einheit.

In bestimmten Führungskreisen war der unaufhaltsame Zusammenbruch der DDR längst vor dem Jahre 1989 bekannt. D.h. die Entwicklungen im Jahre 1989 selbst waren nichts derart Unerwartetes, daß man dann Hals über Kopf alles fallen ließ. Und somit hielt man zwar einerseits am Erhalt der DDR fest, während man andererseits selbst in Stellung ging, um das, was danach auch immer kommen möge, weiter bzw. wieder zu bestimmen, d.h. die „Flucht-nach-vorn-Bewegung“ trieb ihre ersten seltsamen Blüten.

Viele Dinge daraus lassen sich erst im Nachhinein erklären. Aber diesbezüglich kann jeder seine eigenen Erfahrungen, Erlebnisse und Beobachtungen vergegegenwärtigen und abprüfen. Das heißt, es gab nicht nur Geschehnisse, die öffentlich große Verwunderung auslösten, wie z.B. plötzlich so viele Theologen im großen Stil ihre Tätigkeitsfelder völlig neu aufmischten oder manche DDR-Wissenschaftler sich nicht mehr für fachlich zuständig hielten oder schnell von der Bildfläche in Richtung West verschwanden. Sondern es sind oft die kleinen Details gewesen, wie sich manche aus dem Bekanntenkreis merkwürdig verhielten oder ggf. ganz zurückzogen.

An dieser Stelle muß eingeschränkt werden, daß es im Folgenden nur um einen relativ kleinen Teil der genannten Kaderbreite geht. Für viele von ihnen begann nach der „Wende“ ein häufig äußerst selbstquälerischer Prozeß, weil sie sich dessen zunehmend bewußt wurden, worin sie eigentlich involviert waren, wofür man sie benutzte und was sie angerichtet hatten oder möglicherweise ungeahnt noch hätten anrichten können. D.h. die Lossagung, die Distanz zum ehemaligen Handeln und ggf. der Schlußstrich, nie wieder sich für irgendwelche Spitzeldienste oder bestimmte Ideologien verwenden zu lassen, ist sicherlich häufiger anzutreffen, als man sich das denkt. Und diesen gilt auch Anerkennung, wenn sie es auf sich genommen und sicherlich mühevoll dazu durchgerungen haben, diesen Teufelskreis zu verlassen.

Von ausschlaggebender Bedeutung sind aber eben nur leider jene Kader, die selten selbstbestimmt, sondern im Auftrag bzw. mit bestimmten Zielstellungen in die Wende „entlassen“ wurden.

Bestimmt ist manchem noch im Ohr, wie nach der Wende lauthals behauptet wurde, daß es Mord und Totschlag gäbe, wenn vieles bekannt werden würde. Nichts dergleichen ist geschehen. Das Einzige, was tatsächlich die Situation seit 1989 kennzeichnete, ist die Friedfertigkeit der Bürger.

Und so gilt der Blick jenen Kaderchargen, die nach der Wende überall auftauchten, sondierten und beobachteten, wo es was zu gewinnen gab, wo Einfluß genommen werden konnte, in welchen Ämtern, Vereinen, Organisationen, Parteien neue Schaltstellen zu besetzen waren u.v.a.

Natürlich wurden die Spitzelstrukturen ziemlich durcheinandergewürfelt, es kam zu Überschneidungen und anderweitigen Störungen, weil z.B. viele IMs aufflogen und durch HVA-Leute, B-Strukturen oder Alt-SED-Kader zu ersetzen waren.

Schließlich mußten ja auch notgedrungen ahnungslose „Wessis“ vereinnahmt werden. Man mußte „Vertrauen gewinnen“ und sich durch Schulterschluß unverzichtbar machen. Für jene, die mit nachrichtendienstlichem Know-how das Spitzeln gelernt hatten, war es sicherlich leicht, dies unter neuen Voraussetzungen weiter zu betreiben. Nach den postenmäßigen Absicherungen galt es dann, die Verflechtungen neu zu stabilisieren, sich nicht ins Gehege kommen, möglichst wenig zu kommunizieren, damit es nicht auffällt und untereinander die Claims abzustecken. Jeder sollte möglichst „sein eigenes abgesichertes Königreich“ bekommen. Größtmögliche Intransparenz als Zwischenstation für den Fall des Falles...

Unter dieser Prämisse wird vielleicht verständlich, warum gerade in Leipzig vieles im Argen liegt...