2.1.6. Zur B-Struktur
Die Direktive Nr. 1/67 des MfS enthält nicht nur die Anweisung über
die Vorbeugungsmaßnahmen (Kennziffer 4.1.) als Maßnahme
der spezifisch-operativen Mobilmachungsarbeit. Vielmehr ist diese
Direktive generell dem „Inhalt und Ziel der Mobilmachungsarbeit
im MfS“ gewidmet. Die allgemeine Definition dessen, was unter
Mobilmachung zu verstehen ist, wird dort unter 1.1. gegeben:
„Die
Mobilmachung ist der Prozeß der Umstellung der Deutschen
Demokratischen Republik vom Friedenszustand in den
Verteidigungszustand, der alle militärischen, politischen,
ökonomischen und ideologischen Maßnahmen und die Sicherung
ihrer Durchführung in sich einschließt.“ Die
Sicherheitspolitik der SED wollte nichts dem Selbstlauf überlassen.
Im „Verteidigungszustand“ mußte auch das zivile
Leben einigermaßen weitergehen, die Wirtschaft sollte unter
erschwerten Bedingungen trotzdem noch funktionieren.
Um sicher zu gehen, daß der Herrschaftsanspruch der SED auch in
Notstandszeiten gewährleistet war, wurden dazu die notwendigen
Vorkehrungen getroffen. Dazu gehörte die sogenannte B-Planung.
Darunter war die Vorbereitung der Volkswirtschaft auf den
„Verteidigungszustand“ zu verstehen. Im Rahmen dieser
B-Planung war eine sogenannte B-Struktur vorgesehen, die im
Verteidigungszustand oder zu Beginn einer Spannungsperiode, die im
Friedenszustand etablierte Führungsstruktur zum Teil ersetzen
sollte. So war u. a. auch daran gedacht, am Tage X bestimmte
Leitungspositionen in der Forschung, im Hochschulwesen, in den
Betrieben und sonstigen Einrichtungen mit neuen, besonders
ausgewählten Führungskadern zu besetzen. Dieser
Führungskräfteaustausch war insbesondere dort vorgesehen,
wo der jeweilige Leiter als politisch nicht besonders zuverlässig
galt, auf dessen Fähigkeiten und sein Wissen die DDR in
Friedenszeiten aber nicht verzichten wollte.
In
die B-Struktur waren auch ausgewählte Mitglieder der einstigen
Blockparteien einbezogen. In den Bezirksverbänden der
Blockparteien waren Führungsstellen vorgesehen, deren
Wirksamkeit jährlich zu überprüfen war, und über
die von der Abteilung Sicherheitsfragen der SED-Bezirksleitung
jeweils eine Jahreseinschätzung abgefordert wurde.
Nicht
nur SED-Mitglieder am Unterdrückungssystem der DDR waren
beteiligt; dazu gehörten auch Parteilose und
Blockparteimitglieder. Aus dem vorliegenden Aktenmaterial ergeben
sich keine Hinweise darauf, daß die DDR-Blockparteien führend
an der Vorbereitung, Einrichtung und Unterhaltung von Lagern zur
Internierung oder Isolierung von Personen beteiligt waren. Eine im
Besitz des Fraktionsvorsitzenden der Linken Liste/PDS, Herrn Bartl,
befindliche Kopie einer „Ordnung über die wichtigsten
Aufgaben des Kreissekretariats der CDU Leipzig-Land im
Verteidigungszustand“ wurde dem Ausschuß am 16.11.1993
übergeben. Von der Existenz dieses Papiers hatte der Ausschuß
Kenntnis erhalten, als Herr Bartl (LL/PDS) während einer Rede
vor dem Sächsischen Landtag damit gedroht hatte, daß er
den Inhalt des Papiers offenlegen wolle.
Der
Ausschuß hat die mit „CDU/DV Leipzig, Vertrauliche
Verschlußsache Nr. 21/86“ gekennzeichnete Kopie
begutachtet und zu den Akten genommen.
Aus
dem Papier geht hervor, daß der CDU-Bezirksvorstand Leipzig
offensichtlich alle ihm zugeordneten Kreissekretariate mit einer
„Ordnung“ verpflichten wollte, im Verteidigungszustand
bestimmten Aufgaben nachzukommen, so z. B. - „den Mitgliedern
der Partei und der CDU nahestehenden
Bürgern sowie darüber hinaus im Rahmen der Tätigkeit
in der Nationalen Front breitesten Kreisen der Bevölkerung, die
Ziele, den gerechten Charakter und die konkreten Ursachen des Krieges
zu erläutern und sie mit den Ideen der Unüberwindlichkeit
des Sozialismus auszustatten.“
oder „- die Unterstützung der zuständigen staatlichen
Organe bei der Einbeziehung kirchlicher Einrichtungen in das System
der medizinischen und sozialen Betreuung, der Bevölkerung sowie
insbesondere bei der politisch-ideologischen Einflußnahme auf
die Mitarbeiter dieser Einrichtungen.“
Zur
Führung des Kreissekretariats der CDU im Verteidigungszustand
wird u. a. festgelegt:
„Alle
im Zusammenhang mit der Aufgabenstellung im Verteidigungszustand
stehenden Fragen werden im engen Zusammenwirken mit der
Führungsstelle des Bezirksvorsitzenden der CDU oder auf
Weisung
der Kreiseinsatzleitung geklärt.“ (Unterstreichung nur
hier).
Man beachte: Mit der Führungsstelle des CDU-Bezirksvorsitzenden war
lediglich „enges Zusammenwirken“ vorgesehen:
Die
„Weisungen“ kamen aber von der
„Kreiseinsatzleitung“! Die SED hat also auch hier
das Heft des Handelns nicht aus der Hand gegeben.
Zur
Vertraulichen Verschlußsache Nr. 21/86 gehört auch eine
offenbar komplette Auflistung aller Kirchen und kirchlichen
Einrichtungen der Kreise Leipzig-Land, Geithain, Grimma, Döbeln,
Eilenburg und Wurzen. In diesen Listen sind alle Namen der Pfarrer
und sonstigen kirchlichen
Mitarbeiter
sorgfältig geschwärzt, so als ob es heute niemand wissen
dürfe, wer im ehemaligen Bezirk Leipzig in welcher Gemeinde
Pfarrer gewesen ist. Ein unmittelbarer Zusammenhang der VVS Nr. 21/86
mit dem Untersuchungsgegenstand läßt sich beim besten
Willen nicht erkennen.
2.2
Verantwortlichkeit für die unter 2.1 genannten
Vorbereitungshandlungen und Maßnahmen
2.2.1.
Die Rolle der Bezirkseinsatzleitungen und der Kreiseinsatzleitungen
und der darin tätigen SED-Führungskräfte
a)
Die Bezirkseinsatzleitung (auf Kreisebene: die Kreiseinsatzleitung
analog) war gemäß Statut der Einsatzleitungen der
Deutschen Demokratischen Republik wie folgt zusammengesetzt:
-
Vorsitzender:
l. Sekretär der Bezirksleitung der SED
-
Vertreter
des Vorsitzenden im Amt: 2. Sekretär der Bezirksleitung der SED
-
Stellvertreter:
Chef des Wehrbezirkskommandos der NVA
-
Mitglieder:
Leiter der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit,
Chef der Bezirksbehörde
der Deutschen Volkspolizei,
Vorsitzender des Rates des
Bezirkes und Leiter der Zivilverteidigung und
Leiter der Abteilung
Sicherheitsfragen der Bezirksleitung der SED.
Gemäß
dem Statut der Einsatzleitungen bestand deren Hauptaufgabe darin, die
Planung, Realisierung und Kontrolle der Maßnahmen der
Landesverteidigung zu koordinieren und einheitlich durchzusetzen.
Nahezu
übereinstimmend wird demnach bekundet, daß Aufgabe der
Einsatzleitungen die Vorbereitung auf den Kriegsfall bzw. den
Verteidigungszustand war. Dazu seien entsprechende Dokumente der
Überführung in den Verteidigungszustand vorzubereiten und
auf Weisungen des Nationalen Verteidigungsrates periodisch Übungen
durchzurühren gewesen. Die bezirkliche Einsatzleitung war ein
Organ, das dem Nationalen Verteidigungsrat der DDR unterstand.
Wiederholt wird dementsprechend betont, daß die
Einsatzleitungen allein dazu geschaffen wurden, um im Falle eines
Krieges wirksam und tätig zu sein. Darauf hätten auch die
militärischen Übungen, die auf den Ernstfall ausgerichtet
waren, basiert…
(aus: Berichte der Untersuchungs- und Sonderausschüsse des Sächsischen
Landtages, Juli 1994, Kosten: 900.000,- DM)