Max Klingers Wandgemälde für die Aula der Universität Leipzig
von Professor Dr. Paul Schumann
in Dresden Leipzig , Verlag von E. A. Seemann 1909
Max Klingers neuestes Werk, das riesige Gemälde, das fortan die Aula der Universität Leipzig schmückt, ist das bedeutsame Jubiläumsgeschenk der sächsischen Regierung zur Fünfhundertjahrfeier der altberühmten sächsischen Hochschule. Fürwahr eine vornehme erlesene Gabe. Keinem Würdigeren konnte die Ausführung dieses Ehrengeschenks anvertraut werden, als dem Sohne der Stadt Leipzig, dem größten Künstler, den sie hervorgebracht hat seit ihrem Bestehen. Drei Jahre hat Max Klinger an dem Riesenbilde gearbeitet, das nicht weniger als 125 qm umfaßt; 20,30 m lang und 6,15 m hoch nimmt es die gesamte Längswand der Aula oberhalb der Türen fast bis zur Decke ein, und nun beherrscht es den ganzen großen Raum, ihn erfüllend mit seiner hohen malerischen Schönheit, mit seinem tiefen geistigen Gehalt.
Zweimal schon hat Klinger die Stoffe bedeutender Bilder aus dem klassischen Altertum geholt: das Parisurteil schildert einen einzelnen Vorgang aus der griechischen Mythologie, der Christus im Olymp den Zusammenstoß zweier Welten, der antiken und der christlichen Weltanschauung, in die Sphäre allegorisch-mythologischer Anschauung versetzt. In seinem neuesten Bilde ging er darauf aus, den Wesensgehalt altgriechischer Kultur in eine umfassende malerische Darstellung zu zwingen. Schönheitskult und Weisheitslehre, Kunst und Philosophie — so dürfen wir vielleicht den Gehalt des Gemäldes in kurzen Worten zusammenfassen, die Schilderung eines wahrhaft goldenen Zeitalters, die wie ein Ideal und wie eine Mahnung an unser Geschlecht an einer Stätte modernen Studiums unsere Augen, unser Denken und unsere Phantasie in Bann nimmt.
Aphrodite, Homer, Plato, Aristoteles, Alexander der Große — das sind die fünf Namen, die Max Klingers Schilderung griechischer Kultur einschließen; damit zerfällt das Gemälde wie von selbst im wesentlichen in zwei große Teile: links Homer den Griechen seine Gesänge vortragend, rechts Plato und Aristoteles dahinwandelnd, von dem Makedonierkönig Alexander begrüßt. In der Mitte als lyrisches Zwischenspiel: die anakreontische Muse von einem Jüngling verehrt.
Eine Fülle von Anschauungen und Erinnerungen wird angesichts dieser Gestalten in uns frei. Der blinde Homer, der Sänger, der von Ort zu Ort zieht, singt die Taten der Götter, die Schicksale der Griechen vor Troja, die Irrfahrten des Odysseus. Ist es somit nur ein Kulturbild aus Alt-Griechenland — oder ist es mehr? Gewiß — weit mehr. Schon Herodot (II, 53) weiß von der großen Bedeutung Homers zu berichten: „Homer und Hesiod, die wohl nur vierhundert Jahre älter als meine Zeit sind, haben den Hellenen ihre Theogonie, den Stammbaum der Götter (den geordneten Götterstaat), geschaffen, den Göttern ihre Beinamen und Ehren und Fächer zuerteilt, auch ihre Gestalten beschrieben.“
Mit zwei Namen bringt hier Herodot, der Vater der Geschichte, einen überaus bedeutsamen Vorgang im geistigen Leben des griechischen Volkes in Zusammenhang: die Sänger als Urheber einer großen Veränderung in der Religion. Mit dem Epos, wie es sich allmählich ausbildete, gewann die Poesie die Herrschaft über alle Götterauffassung der Griechen. Aus den Gestalten und Mythen welche die Phantasie des Volkes sich in Bangigkeit und Ehrfurcht aus Naturvorgängen und Lebensereignissen gebildet und erdacht hatte, wurde durch die Sänger „eine persönlich und episch bewegte Welt“.
Die ältere Stufe mythologischer Anschauung kann man sich — wir folgen Jakob Burckthardts Darstellung — also denken: Die gewaltigen elementaren Mächte, von denen sich die Griechen umgeben fühlten, gestalteten sich in ihrer Phantasie zu furchtbaren Persönlichkeiten, aus menschlichen und tierischen Teilen gemischt; ihr Tun bildete einen Anfang vom Mythus, der teils allgemein menschliches — besonders arisches — Stammgut sein mochte, teils der ursprünglichen griechischen Volksphantasie angehörte. Solche Bilder entstehen z. B. aus der Beobachtung der Vorgänge in der Luft, wo die Naturmächte in schrecklichem Kampf aneinander geraten: die Gewitterwolken des Südens als geflügelte Ungeheuer, der Blitz als entsetzlicher Dämon sie spaltend und aus ihnen hervordringend! Nicht minder schreckhaft treten in dieser alten Volksanschauung die Gestalten des Meeres hervor — vielleicht hatte die Nation früher binnenländisch gelebt, und das Meer war ihr dann ein neuer höchst mächtiger Anblick gewesen. Neben diesen furchtbaren herrschten aber gewiß auch schon gabenspendende Gottheiten; und das Feuer, zumal das des Herdes, wird Verehrung genossen haben von Anfang an.
Gewiß war auch schon in jenen Zeiten die Anlage zur Götterdichtung vorhanden, denn die Seele sucht sich schon von frühe an über die Bangigkeit vor dem Übernatürlichen zu erheben, indem sie den Anrufungen eine höhere Gestalt und Weihe gab. So sang man wohl bei den Heiligtümern Hymnen, im Volke aber von alters her Lieder zur Feier bestimmter Augenblicke des Lebens überhaupt und der Jahreszeiten insbesondere: ermutigende Schlachtgesänge, Frühlingslieder, Hochzeitslieder, Totenklage usw. „Noch in der geschichtlichen Zeit waren uralte Reste dieser Art vorhanden, und Herodot (IV, 35) erwähnt sowohl den Hymnus, den die Weiber auf Delos beim Almosensammeln sangen, als auch die übrigen alten Hymnen, die auf der Insel gesungen wurden, lauter Schöpfungen des mythischen Dichters Olen aus Lykien.
Irgendwann, so schildert Burckhardt den Entwickelungsgang weiter, ist dann der Welttag des erlösenden epischen Gesangs angebrochen, vielleicht plötzlich durch eine unerwartete Hebung. Hochbegabte Menschen, im Vollbesitz der bisherigen Volksphantasie und religiösen Überlieferung, werden sich des Vermögens bewußt, dies alles in einen größeren Zusammenhang zu bringen und im Sinne des Volkes daran weiter zu dichten. Sie bildeten vor allem die Götter zu menschenähnlichen und dabei doch völlig wunderbaren Wesen um und befreiten sie von dem fratzenhaften Aussehen, das zuhörende Volk aber von der Bangigkeit; ihnen zuerst gestaltete sich das Auftreten der Götter sowohl in ihrem besonderen Leben als unter den Menschen zu einer Welt der erstaunlichsten Bilder, und in diese Welt wurden die bisherigen Sagen von Kämpfen und Wanderungen der Nation von selbst mit hineingezogen und zum Heldenmythus verklärt — alles gemäß dem innersten Sinnen und Sehnen des Volkes, aber nur das Werk seiner höchsten und feinsten Kräfte. Es genügt, eine einzige göttliche Gestalt, wie z. B. Helios, in der reichen Überlieferung von einem wunderbaren Dasein und Erscheinen zu verfolgen, um überall den Sänger zu ahnen, der allein diese Welt von schöner Bildlichkeit hat aus dem Volksglauben heraus entwickeln können. Vielleicht erhob sich das Epos an mehreren Orten fast zugleich; das übrige tat dann jene dem hellenischen Leben eigene Art des Wettkampfes: der Agon, der auf allen Gebieten später sich als eine der stärksten Mächte erweisen sollte. Die Bevölkerungen aber, die den Aöden zuhörten, waren gewiß schon überwiegend städtisch und geistig geweckt, und die Aneignung des Gesungenen bei ihnen eifriger als auf dem Lande.
Und gerade diese Sänger haben wohl auch als Wandernde die Einheit des hellenischen Schauens und Denkens gefördert, ja geschaffen, denn die Nation bestand aus vielen kleinen Stämmen und Staaten, deren bisheriger geistiger Austausch nur gering gewesen sein kann. Und nur die Sänger suchten das Volk von Ort zu Ort auf; denn Herumreisende andrer Art sind damals schwer denkbar. Nennt doch Homer (Od. XVII, 383) unter den Leuten, die man zu sich bescheidet, ausdrücklich auch die Sänger. Wahrscheinlich sind diese Sänger die ersten großen Entdecker und Meister der griechischen Sprache und ganz gewiß die Schöpfer der epischen Mundart gewesen, die bei Griechen aller Mundarten verständlich wurde. So hatten sie eine mächtige Aufgabe, die wahrlich ein Leben ausfüllte; was sie aber sangen und wie sie's sangen, also ihren Stil und die äußere Form, den Hexameter, lernen wir aus dem reifsten Beispiel, aus Homer, kennen. Mit seinem Namen verknüpft sich „die eigentliche dichterische Tat, die Vereinfachung und Ausgleichung des Verworrenen und Überreichen, auf der aller Idealismus der griechischen Kunst beruht, am Bilde der Götterwelt am großartigsten durchgeführt“ (Rhode, Psyche S. 39).
Es bedarf darnach schwerlich noch eines Hinweises, daß, wer griechische Kultur in ihrem Werden und in ihren Höhenpunkten schildern will, uns vor allem Homer vorführen muß, Homer den Sänger, den Schöpfer der althellenischen, olympischen Götterwelt, den Bringer eines neuen einheitlichen Schönheitskultes und einer erhabenen Kunst für das gesamte Griechenland.
So sehen wir ihn denn auf Max Klingers Bilde, den blinden Sänger, wie er auf einer Art Naturthron sitzend das Antlitz zum Himmel erhoben und mit weit vorgestreckten Armen einer Schar von Griechen von ihren Göttern und Helden singt, von Olymp und Erde und Unterwelt. Eine Gestalt von erschütternder Eindringlichkeit! Jugendliches Feuer durchpulst den greisenhaften Körper des Rhapsoden; seine Augensterne sind erloschen, aber vor seinem inneren Auge leben ganze Welten dichterischer Phantasie, und mit der Hingabe seines ganzen inneren Seins, mit leidenschaftlichen Gebärden zaubert sie sein Sang vor die Augen seiner andächtigen Hörer — Gläubige, wie sie sich der Dichter, der Sänger nur wünschen kann. Wie sie dicht aneinandergedrängt regungslos lauschen, wie sie an seinem Munde hängen oder ins Unbestimmte schauend vor ihrem inneren Auge die Gestalten und Ereignisse erstehen sehen, von denen der Sänger in umständlicher Breite berichtet! Wie sie an diese Gestalten glauben und mit dem Sänger gehen, wohin er sie leitet!
Und während der Sänger eben begeistert von der Schönheit der Göttin singt, da entschwebt sie selber, die Schaumgeborene, dem ewigen Meer: in prangender Schönheit, den blauen Mantel von sich streifend, steht Aphrodite — von Tauben umflattert — auf dem Spiegel des Meeres. Keiner sieht sie — sie ist nur die Seele, die des Sängers Lied durchpulst und erwärmt, sie ist die Götterschönheit, die durch des Sängers Worte für die Hörer Form wird als „das große Idealbild ihres eigenen dauernden Seins“.
Die Darstellung des Vorgangs erscheint uns völlig natürlich und dabei ist sie so ganz eigenartig und neu. Vergegenwärtigen wir uns z. B. Johann Asmus Carstens' Umrißzeichnung „Der Sänger Homer im Kreise der Griechen“ oder das Gemälde des Schweizers Gleyre, der in der farbig effektvollen Weise der damaligen französischen Schule Homer als den Dichter der griechischen Jugend malte, so erscheint uns Klingers Schilderung als gewaltig überlegen.
Die ganze Komposition ist überaus klar und überzeugend wahr in ihrem Aufbau: zur Linken bildet Aphrodite den Abschluß, dann folgt die dicht gedrängt sitzende Hauptgruppe von fünfzehn lauschenden Männern und Jünglingen, ihnen zugekehrt Homer, neben ihm eine kleinere Hörergruppe, bestehend aus einem Knaben, einem Jüngling, der mit dem blanken Schwert spielt, und einem weißbärtigen Greis; dahinter zwei Jungfrauen in glänzenden Byssosgewändern, die des Sängers Lied mit Triangel und Leier begleiten. Alle Gestalten, bis auf den zuhörenden Greis und die beiden Jungfrauen sind nackt; wir bemerkens kaum, so selbstverständlich ist es, so sehr beherrscht das Geistige den dargestellten Vorgang. So ist das Ganze das echte überzeugende Bild einer Zeit, als „die Poesie ein dringendes Bedürfnis“ war, als ein ganzes Volk „dringend und eifrig nach umständlichem Bericht verlangte über die von ihm selbst geschaffenen, aber unfertig oder schreckhaft gebliebenen Götter und Heroen, und als die Sänger ihm solche in Schönheit und Lebensfülle, als sein eigenes Wesen, nur in erhöhtem Ausdruck entgegenbrachten.“
Und nicht bloß jene ferne Zeit und jenes jugendliche, naiv gläubige Volk und sein göttliches Ideal sehen wir in dem Sänger, in seinen Hörern und in der Göttin verkörpert; der Künstler zeigt uns auch das herrliche Land, die große Natur, aus dem jene Menschen und Götter entsprangen. Wir brauchen ja nur hinzugehen nach Griechenland und durch das agäische Meer von Festland zu Festland, von Insel zu Insel zu fahren, da leuchtet auch uns die Sonne Homers wie vor 3000 Jahren dem Sänger und seinen Hörern. Und Max Klinger hat uns dieses Land auf sein Bild gezaubert: über die Köpfe der Homer hinweg, die dicht am Strande sitzen, schauen wir aufs Meer, auf schimmernde Hafenbuchten, auf den sonnendurchglühten Wasserspiegel, auf spitze, rotglühende Landzungen und auf ein ganzes Diadem von felsigen kahlen Inseln und Inselchen, die sich bis in die endlose Weite erstrecken: Syra, Tinos, Andros und darüber die Sonne Griechenlands. Ein Bild von unbeschreiblicher zauberhafter Schönheit, das man mit immer erneuter Wonne und Sehnsucht in sich aufnimmt.
Unser Blick geht weiter zur Mitte des Bildes. Ein mächtiger Baum erhebt sich; an ihn lehnt eine ernste Frauengestalt und ein kniender Jüngling schaut wie anbetend zu ihr empor. Wer mag es sein? Vielleicht ist es der Hirtenknabe des Hesiod (Theogonie 22—35), der als Sänger „seine Bestallung und Weihe von den Genien des Gesangs, von den Musen erhält,“ oder der Lyder Karios, der von den Musen am See Torrebia die Musik erlernte. Oder nennen wir die beiden Anakreon und seine Muse, ein Bild der göttlichen Inspiration des Dichters.
Von diesem lyrischen Zwischenspiel kommen wir zum andern Hauptteil des Bildes. Ist der eine Höhepunkt hellenischer Kultur die Kunst, der Schönheitskult — die zweite Blüte des geistigen Lebens Griechenlands ist die Philosophie. Sie gab den Griechen, was ihnen die Götter mit ihrer Schönheit als nur idealisierte Menschen mit allerlei Schwächen nicht geben konnten; „den Göttern fehlte die Heiligkeit, d. h. das, was sie zu Vorbildern der menschlichen Sittlichkeit hätte machen müssen.“ In diese Lücke tritt die Philosophie ein, ihre Ethik ist darum ein nicht minder wichtiges Denkmal des griechischen Geistes, wie die Epen Homers. Plato und sein Schüler Aristoteles sind die Hauptträger griechischer Weisheitslehre: Plato, der Schüler des Sokrates, der Vater der Ideenlehre, der Vertreter einer sittlich festen Richtung, der den Sophisten mit so hohem Ernste entgegentrat, der Ausbauer der einzelnen philosophischen Wissenschaften, die er zum einheitlichen Ganzen zusammenzufassen suchte; Aristoteles, der Schüler Platos, der Philosoph der Tatsachen, der wissenschaftliche Begründer der Logik, der Lehrer Alexanders des Großen. Diese beiden sehen wir im Vordergrunde der rechten Seite des Gemäldes nebeneinander dahinwandeln: beide Greise hochgewachsene ehrwürdige Gestalten. Plato in dunklem, Aristoteles in hellem Gewande; Plato zuhörend, mit einem Buche in der herabhängenden Hand, Aristoteles als Realist mit energischer bezeichnender Gebärde auf den Boden deutend. Betrachten wir die beiden mit ihren ganz individuell aufgefaßten Zügen, in dem starken Leben ihres durchgeistigten Antlitzes, Plato in monumentaler Ruhe, Aristoteles eindringlich sprechend und seine Anschauung vertretend, da möchte man wohl meinen, wir hätten es mit bildnisgetreuen Darstellungen geistig hochstehender Männer zu tun — und doch ist das ein Irrtum; die starke überzeugende Charakteristik der beiden Männer ist wie die Homers rein in Klingers schöpferisch gestaltender Phantasie entstanden. — Wie wir die beiden Philosophen so dahinwandeln sehen, kommt uns die Erinnerung daran, daß Aristoteles in den schattigen Baumgängen des Lykeions mit seinen Schülern auf- und abwandelnd zu philosophieren pflegte, wonach man sie Peripatetiker nannte. Im Schutze des Staates, den beide Weltweisen philosophisch tief begründet haben, erblühten edler Lebensgenuß und die musischen Künste: jenseits des schmalen tiefblauen Bachlaufes, der den Vorder- vom Mittelgrunde trennt, sehen wir dies in einer ruhigen Gruppe veranschaulicht: drei schöne Jungfrauen hören einem liegenden Jüngling zu, der mit lebhafter Geste zu ihnen spricht; die Rolle in seiner Linken deutet auf den Vortrag einer Dichtung. Ein Maler zeichnet die stehende Jungfrau, die in eleganter Pose ihre Schönheit ihm darbietet. Ein Greis, der dabei sitzt, trägt die Züge des Sokrates. Er hat ein Recht, hier dargestellt zu werden. Ging doch von ihm die Meinung aus, daß die philosophischen Fragen und Lehren nur Mittel zum Zweck seien, zur höchsten menschlichen Aufgabe, der Erziehung zum wahren Menschen, d. h. zum wahren Staatsbürger. Und derselbe Sokrates erklärte das Wahre, das Schöne, das Gute, Tugend, Gerechtigkeit, Frömmigkeit für Wirklichkeit; wie alle Begriffe überhaupt, seien sie ewig, unabänderlich göttlich.
Eine dritte Gruppe ganz zur Rechten des Gemäldes schließt den Gedankengang ab. Von drei schönen Jungfrauen begrüßt und geleitet, schreitet hastig ein gerüsteter Krieger herein, mit feurigem Verlangen und Ungeduld im Blick auf Aristoteles hinschauend, dem ein Mädchen im Gewande Dianens eben den Ankömmling meldet: Alexander den Makedonierprinzen. Er war der Schüler des Aristoteles. Wie stolz Griechenland auf diese Tatsache war, lehrt der im Altertum berühmte Brief, den Philipp von Makedonien bei der Geburt seines Sohnes an Aristoteles geschrieben haben soll: „nicht daß er geboren ist, sondern daß er in Deinen Tagen geboren ist, macht mich froh; von Dir erzogen und gebildet wird er unser würdig und der Aufgabe, die einst sein Erbe ist, gewachsen sein.“ Mag dieser Brief auch eine Erfindung sein, so lehrt sie doch, wie man in Griechenland die Tatsache empfand, daß der große Bezwinger von einem Griechen erzogen worden war. „Der die Welt dem Gedanken erobert hat, erzog den, der sie mit dem Schwerte erobern sollte; ihm gebührt der Ruhm, dem leidenschaftlichen Knaben die Weihe und Größe der Gedanken, den Gedanken der Größe gegeben zu haben, der ihn den Genuß verachten und die Wollust fliehen lehrte, der seine Leidenschaft adelte und seiner Kraft Maß und Tiefe gab“ (Droysen, Geschichte des Hellenismus I, 92).
Alexander bewahrte für seinen Lehrer allezeit die innigste Verehrung: seinem Vater danke er nur sein Leben, seinem Lehrer, daß er würdig lebe. Es wird uns nicht schwer fallen, in dem Klingerschen Alexander die eben angedeuteten Züge wiederzufinden: in der Hast seines Vorwärtsstrebens und in seinen heftigen Bewegungen die Leidenschaftlichkeit seines Temperaments, in dem leuchtenden Blick seiner Augen die innige Verehrung, die er seinem Lehrer zollte.
Aber wir dürfen in dem Erscheinen Alexanders im Garten des Philosophen noch etwas mehr suchen, als die genrehaft dargestellte Erinnerung an die Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler. Mit Alexander meldet sich für Griechenland und für die alte Welt die neue Zeit an. Schon Plato fühlte sich angewidert von dem engherzigen politischen Treiben seiner Mitbürger, so daß er seine Schule aus den Mauern Athens hinaus in die Akademie verlegte, und noch mehr wandten sich die späteren Philosophen von der Bürgerphilosophie Weg zur Menschheitsphilosophie.
Alexander aber war der Mann der Tat, der diese Lehre in die Wirklichkeit umsetzte. Makedonien war für ihn zu klein. Er eroberte ein Weltreich und öffnete die Tore der Menschheit für das Weltbürgertum, für das Weltreich, das sich späterhin über alle Länder rings um das Mittelmeer erstrecken sollte. So bedeutet das Erscheinen Alexanders hier im Garten der Philosophen den Ausblick auf eine weite große Zukunft.
Die Gestalt des Klingerschen Alexander wird manchem überraschend scheinen. Denn Alexander führt den Beinamen der Große, und „die Heldensage der morgen- und abendländischen Völker ist nicht müde geworden, den Namen Alexanders mit allem Wunderglanz menschlicher und übermenschlicher Größe zu schmücken.“ So stellen wir uns den welterobernden Makedonierkönig Alexander als einen hochgewachsenen stattlichen Mann vor, etwa wie ihn Sodoma in der Farnesina zu Rom gemalt hat. Bei Klinger aber sehen wir einen kleinen Mann, den die geleitenden Jungfrauen fast um Kopfeslänge überragen und dem wir keineswegs so ohne weiteres die Taten eines Alexander zutrauen.
Nun, die Geschichte gibt allerdings dem Künstler Recht. Justinus und Quintus Curtius erzählen uns gleichmäßig, daß die Makedonier überhaupt klein von Wuchs waren. Bei Curtius lesen wir, daß der kleinste Skythe den größten Makedonier noch um Kopfeslänge überragte, und Justinus erzählt, Alexander habe vor der Schlacht bei Arbela seine Makedonier ermahnt, sich durch die Menge der Feinde (der Perser) und ihre Körpergröße nicht verblüffen zu lassen. Aus diesen und anderen Zeugnissen der alten Schriftsteller geht unzweifelhaft hervor, daß die Makedonier an sich klein von Wuchs, kleiner als die barbarischen Völkerschaften waren. Alexander aber ragte nicht einmal unter seinen Stammesgenossen hervor. Der unbekannte Verfasser des Itinerarium Alexandri sagt (VI, 14): „Der junge Mann war mittelgroß. Seine Glieder waren geradezu mager, was übrigens seinem kühnen Temperament zustatten kam . . . auf seinem Körper ragten die kräftigen Muskeln wie Vorsprünge empor.“
Quintus Curtius (III, 12) erzählt, wie Alexander nach der Schlacht bei Issus in Begleitung Hephästions die gefangene Mutter und die Frau des Darius aufsuchte: „Aber Hephästion war größer und sah stattlicher aus, so daß ihn die beiden Königinnen fälschlich für den König hielten.“ Auch der Sizilier Diodorus erzählt, die Königin Sysigambis habe Hephästion für den König gehalten und sei ihm zu Füßen gefallen. Noch bezeichnender ist folgende Erzählung des Quintus Curtius: Alexander hatte Persepolis eingenommen und nahm auch Besitz von dem alten Palast der Achämeniden. „Dort setzte er sich auf den Thron des Perserkönigs; der paßte indes für seine kleine Gestalt nicht, so daß der König mit den Füßen nicht den Fußboden erreichen konnte. Einer der Pagen, der das bemerkte, holte schleunigst eine Fußbank (einen Tisch) und schob sie ihm unter die Füße.“
Derselbe Quintus Curtius erzählt weiter (VI, 5): „Als Thalestris, die Königin der Amazonen, mit Alexander zusammen kam, betrachtete sie ihn ohne jede Bewunderung, „und wie sie ihn betrachtete, fand sie, daß seine Gestalt seinem Rufe nicht entspräche, denn die Barbaren haben nur vor einem stattlichen Äußeren Hochachtung und halten nur diejenigen für großer Taten fähig, weiche die Natur mit körperlichen Vorzügen ausgestattet hat.“
Alexander der Große war anderseits überaus kräftig und sein Körper war schön gebaut und von schönem Ebenmaß der Glieder. Auch sonst sind wir über Alexanders Aussehen wohl unterrichtet. Nach Älian (Var. hist. XII, 14) hatte er rote (oder blonde) wallende Haare und in seinem Blick etwas Erschreckendes. Nach Solinus sah Alexander majestätisch aus; er sah bedeutender aus als jeder andere; er trug den Kopf hoch, seine Augen waren heiter und glänzend, seine Wangen anmutig gerötet. Apulejus erzählt von seiner furchtbaren Stärke und von der Anmut seiner freien Stirn. Die Kraft seines Körpers rühmt auch Appian. Eumenes rühmt den Glanz seiner Augen, sein ebenso majestätisches wie anmutendes Aussehen, das zugleich die Blicke auf sich zog und blendete. Der König vereinte Tapferkeit und Schönheit. Plutarch erzählt, dem Bildhauer Lysipp sei es wohl gelungen, die Haltung seines Halses, den er ein wenig nach der linken Schulter neigte, und seinen durchdringenden Blick wiederzugeben. Apelles dagegen traf seine Hautfarbe nicht; er machte sie brauner und dunkler als sie in Wirklichkeit war; denn Alexander hatte eine sehr weiße Haut und diese wurde noch gehoben durch die Röte der Wangen und der Brust.
Den Schrecken, den Alexander einzuflößen vermochte, schildert Plutarch anschaulich. Alexander hatte kurz vor seinem Tode noch den Kassandros mißhandelt. Dieser bekam davon einen solchen Schrecken, daß er noch anhielt, als Alexander längst tot war. Eines Tages ging er in Delphi spazieren und besah die aufgestellten Standbilder und Büsten. Als er unvermutet Alexanders Antlitz sah, erschrak er so, daß sich ihm die Haare sträubten, daß er zitterte und lange Zeit sich nicht setzen und nicht wieder beruhigen konnte. (Ujfalvy: Le type physique d'Alexandre le Grand — Friedrich Köpp: Über das Bildnis Alexanders des Großen).
Also darf sich Klinger für seinen Alexander wohl darauf berufen, daß die kleine Statur des makedonischen Helden eine geschichtlich verbürgte Tatsache ist; nicht minder gilt dies von seinem Enthusiasmus und von dem Überschwang seines Empfindens, wie von seinem hastigen Gang, seinem funkelnden Blick und dem zurückfliegenden Haar (das auf Klingers Bild allerdings durch den großen Heim verdeckt ist). Dann ist es auch folgerichtig, wenn sich die Enttäuschung der Thalestris, der Irrtum der Sysigambis für manchen Beschauer vor dem Klingerschen Alexander wiederholt.
Die Komposition der rechten Hälfte ist ähnlich wie die der anderen Seite des Gemäldes: links die beiden Philosophen, die so mächtig die Blicke des Beschauers auf sich lenken, entsprechen dem Homer und bilden den idealen Mittelpunkt der Schilderung; den Zuhörern des Sängers entsprechen die zurücktretenden Gruppen der künstlerisch Genießenden, Alexander bildet wie drüben Aphrodite den Abschluß des Bildes und schließt zugleich das ganze Gemälde ab: dort ruhige Anmut, göttliche Schönheit, hier leidenschaftliche Bewegung, männliche Tatkraft.
Wundervoll ist auch wieder der landschaftliche Rahmen, in dem sich diese zweite Szene des Klingerschen Gemäldes abspielt: eine köstlich stille Waldwiese, rings umschlossen von Öl- und Lorbeerbäumen, von hochstämmigen Ulmen und einem dichten schattigen Pinienhain im Hintergrunde, über dem sich das Felsengebirge in steiler Wand lichtdurchglüht erhebt. Prachtvoll ist der Gegensatz zwischen der lichten Weite des inselbesäten Meeres und der farbentiefen Umschränktheit des feierlich stillen Hains am Felshang. Aber ganz vorzüglich hat es der Künstler verstanden, beides zur Einheit zu verschmelzen durch das farbenleuchtende Oleandergebüsch im Vordergrund, durch das niedere weiße Haus im Mittelgrund mit dem aufwärts führenden Laubengang, durch den lichten Glanz der Sonne, die von der rotglühenden felsigen Landzunge im Meer hinüberleitet zur sonnigen Steilwand des Felsengebirges. So schließen sich die festlich heiteren Klänge der hellen Inselwelt mit den feierlichen Akkorden von Gebirg und Wald zusammen zu der vollen Melodie einer wohlgeschlossenen, reichgegliederten und gegensatzreichen Landschaft. Die kunstvolle Gliederung des riesigen Gemäldes in eine große lichtvolle Fläche und eine entsprechende dunklere Masse wirkt um so natürlicher, weil sie durchaus dem geistigen Gehalt der umschlossenen Figurengruppen entspricht: der sonnige Strand und das weite Meer der weitschweifenden, gestaltenden Phantasie des Sängers, die feierliche Pracht von Gebirg und Wald der stillen Denkertätigkeit der Philosophen. So ist das Ganze stimmungsvoll im echten Sinne des Wortes.
So tritt uns in Klingers bedeutsamer Schöpfung die geistige Welt des alten Griechentums, treten uns die großen Ideen seiner inneren Entwickelung in lebendigen Bildern voll eindringlicher überzeugender Wahrheit entgegen. Und diese ferne Vergangenheit ist noch immer Gegenwart: unser geistiges Leben, unser ideales Schaffen ist noch immer untrennbar verbunden mit der Welt der Homer, Plato und Aristoteles. Wie vor Jahrtausenden sitzen noch heute dichtgedrängt die Scharen der Jünglinge zu den Füßen der Dichter und Denker und Lehrer; noch bestehen immer die alten Gegensätze von Poesie und Wissen, von Phantasie und exakter Forschung, die erst in ihrer Vereinigung die volle Harmonie ergeben; noch heute kommen die Fürsten der Welt, um den Fürsten der Kunst und der Wissenschaft ihre Huldigung darzubringen. So ist das Klingersche Gemälde im akademischen Festsaal wie ein gewaltiges Symbol hohen geistigen Lebens, manchem kann es auch eine Nahrung sein, über dem nützlichen Lehrbaren auch die große Freudenbringerin Poesie und die Mutter großer Taten, die Begeisterung, nicht zu vergessen.
Mit solchem tiefen Gehalt aber, wie er deutschem Empfinden seit den Tagen der Goldenen Pforte und der Kupferstiche Albrecht Dürers immer als das Wesentliche eines Kunstwerkes erschienen ist — mit diesem tiefen Gehalt eint sich in dem Klingerschen Bilde eine berauschende festliche Farbenpracht, der Glanz schimmernden Lichtes, durchsichtiger Luft, wie sie erst in unseren Tagen durch die Errungenschaften der modernen Malerei möglich geworden sind.
Unvergeßlich werden sich dem Gedächtnis des Beschauers die Hauptgestalten des Bildes einprägen, vor allem der begeistert singende greise Homer und die ernsten würdevollen Philosophen Plato und Aristoteles mit ihren durchgeistigten und lebendigen Zügen, dann aber auch die schönheitsvolle Aphrodite und der leidenschaftliche Alexander; unverlöschlich wird auch die wundervolle Landschaft jedem Beschauer das Land, wo vor mehr denn zwei Jahrtausenden Schönheit und Weisheit zu innigem Bunde zusammentraten, in die Seele graben. Künftigen Geschlechtern aber wird Max Klingers Gemälde sagen, daß auch in unseren Tagen die Geister noch tief bewegt wurden von den großen Ideen griechischer Kultur —
Und die Sonne Homers
Siehe: sie leuchtet auch uns.
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